Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo: „Life begins at the end of your comfort zone.“
Prof. Dr. Marylyn M. Addo ist seit 2017 W3-Professorin für Infektiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), wo sie die Abteilung für Infektionskrankheiten leitet und Gründungsdirektorin des Instituts für Infektionsforschung und Impfstoffentwicklung ist. Ihr Forschungsgebiet sind insbesondere Virusimmunologie und Impfstoffstrategien gegen neu auftretende Viruserkrankungen. Dazu gehören klinische Studien mit neuartigen Impfstoffkandidaten gegen Viren wie MERS (Middle East Respiratory Syndrome) und Ebola. Seit 2013 ist sie am UKE tätig. Ihre medizinische Ausbildung als Internistin und Infektiologin verlief von Bonn über Frankreich, die Schweiz und London bis nach Boston (Harvard Medical School). Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo ist 1970 in Bonn geboren und hat zwei Kinder. Dieses Interview führte Zekiye Tolu SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“ Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo: „Ich bin als Tochter eines ghanaischen Vaters und einer deutschen Mutter zusammen mit meinem Bruder in einer Kleinstadt im Rheinland aufgewachsen. Ich würde meine Kindheit und Jugend als behütet und glücklich bezeichnen. Zunächst war ich zwei Jahre in einem englischen Kindergarten und einer Preschool, danach wechselte ich ins deutsche Schulsystem und machte dort mein Abitur. Schon früh begann ich mit Ballett, interessierte mich für Kunstturnen und Voltigieren und spielte Querflöte. Ich engagierte mich in der katholischen Jugendarbeit und sang in einem Jugendchor. Die Ferien verbrachte ich oft sehr naturverbunden auf dem Bauernhof meines Großvaters in der Eifel: Kühe auf die Weide bringen, melken, Traktor fahren, bei der Ernte helfen – viel Aktion mit elf Cousinen und Cousins. Später betreute ich Jugendfreizeiten und Zeltlager.“ SWANS: „Gab es Vorbilder, die Sie früh geprägt haben und einen positiven Einfluss auf Sie hatten?“ Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo: „In meiner Kindheit wurde ich vor allem von meinen Eltern als Vorbilder geprägt. Mein Vater war ein kluger Mann – eher zurückhaltend, aber sehr warmherzig. In seiner Tätigkeit als Arzt hat er viele Menschen auch jenseits des Medizinischen berührt – das hat mich stets beeindruckt und auch ein wenig stolz gemacht. Sein Weg aus einer kleinen Stadt in Ghana, ohne akademischen Hintergrund und mit begrenzten finanziellen Ressourcen, über gute schulische Leistungen und Stipendien bis hin zum Medizinstudium in Deutschland, hat mich immer inspiriert. Aus diesem Lebensweg heraus entstand auch sein oft zitierter Satz: „Was du weißt, kann dir keiner nehmen.“ In diesem Zusammenhang verwies er oft auf Nelson Mandela, dessen Persönlichkeit in unserer Familie sehr präsent war – insbesondere als Vorbild für Resilienz und Integrität. Meine Mutter stammte aus einem kleinen Dorf in der Eifel, ging mit 15 Jahren für eine Ausbildung nach Bonn und wurde früh selbstständig. Für beide Elternteile war ihre „mixed-race“-Beziehung in ihren Herkunftsfamilien eigentlich ein No-Go. Sie haben diese Verbindung trotz anfänglichem Widerstand und rassistischen Anfeindungen mit großem Mut, viel Liebe und beeindruckender Stärke gelebt. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar für ihre Unterstützung und dafür, dass sie meine Neugier und Entdeckungslust stets gefördert haben – auch wenn die finanziellen Möglichkeiten oft begrenzt waren. In manchen Familien mit Migrationshintergrund in meinem Umfeld wurde viel Druck auf die Kinder ausgeübt, etwa nach dem Motto: „Ihr müsst immer besser sein als die anderen.“ Das war bei uns nie ein Thema. Bildung, Lernen und Lesen wurden wertgeschätzt und gefördert – aber um der Sache willen, nicht aus Leistungsdruck. In meiner späteren beruflichen Laufbahn wurde ich von wunderbaren Mentorinnen und Mentoren begleitet – unter anderem von Prof. Bruce Walker und Prof. Jürgen Rockstroh. Auch Michelle Obamas Zitat: „When they go low, we go high“ begleitet mich bis heute in vielen Situationen.“ SWANS: „Was hat Sie dazu bewegt zu studieren und warum haben Sie sich für die medizinische Richtung entschieden?“ Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo: „Ich war schon immer wissbegierig, habe mit Begeisterung gelesen und gerne Neues gelernt. Der medizinische Beruf faszinierte mich früh, weil er so facettenreich ist: Von der Patientenbetreuung in Klinik oder Praxis über Wirtschaft und Industrie bis hin zu Beratung, Lehre und Forschung eröffnen sich viele spannende Wege. Nach dem Abitur habe ich ganz bewusst und sehr intensiv auch andere Studiengänge in Betracht gezogen – kurz standen Chemie, Lebensmittelchemie, Philosophie und Theologie im Raum –, weil es mir fast zu ‘klischeehaft’ erschien, als Tochter eines Arztes ebenfalls Medizin zu studieren. Letztlich entschied ich mich dann doch für die Medizin – und habe es nie bereut. Dass ich heute in der Forschung und als Professorin tätig bin, hatte ich zu Beginn meines Studiums weder geplant noch auch nur in Erwägung gezogen. Ursprünglich wollte ich Kinderärztin werden – auch motiviert durch meine langjährige Jugendarbeit in Sport und Gemeinde (als Trainerin, bei Zeltlagern, Ferienfreizeiten und als Camp Counselor in den USA). Später interessierte ich mich für Gynäkologie und Geburtshilfe – bis mich schließlich die Begeisterung und Leidenschaft für die Infektiologie gepackt hat und nicht mehr losließ. Die (eigentlich sehr lustige) Geschichte dazu sprengt hier den Rahmen, aber ich erzähle sie gern, um zu zeigen: Viele Menschen in Leitungspositionen haben keine geradlinigen Lebensläufe. Oft sind sie bunt, vielfältig – und manchmal auch überraschend. Deshalb ermutige ich meine Mentees und Mitarbeiter:innen ausdrücklich dazu, ihren eigenen Weg zu finden. Dieser darf auch mal eine Schleife drehen oder vorübergehend in einer Sackgasse enden. Dann braucht es manchmal Mut zur Umorientierung und die Bereitschaft, sich neu auszurichten.“ SWANS: „Wie fühlten Sie sich in den USA im Vergleich zu Deutschland? Haben Sie in eines der Länder Rassismus erfahren? Wenn ja, wie sind Sie damit umgegangen?“ Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo: „In den USA habe ich im sehr liberalen und internationalen Boston im Bundesstaat Massachusetts gelebt. Ich habe mich dort mit meiner Familie in einem vielfältigen und internationalen Umfeld sehr wohlgefühlt und tatsächlich kaum oder nur wenig Rassismus erlebt. Fast im Gegenteil – in den Institutionen, in denen ich gearbeitet habe, gab es zahlreiche Förderprogramme, Stipendien und Netzwerke für Diversity, Equity und ‚underrepresented minorities‘, von denen auch ich profitieren durfte. Das ist sicherlich nicht überall in den USA der Fall. In Deutschland jedoch habe ich – wie wahrscheinlich fast jede*r BIPOC – im Laufe meines Lebens immer wieder Rassismus und Diskriminierung erfahren: manchmal subtil, manchmal aggressiv, manchmal aus Ignoranz oder Unbedachtheit. Von verbalen Anfeindungen