Sawsan Chebli: „Ich hätte nie gedacht, dass ich Staatssekretärin werde.“

Sawsan Chebli ist Politikerin (SPD) und Buchautorin. Heute lebt sie in Berlin, ist verheiratet und Mutter eines Sohnes. In Berlin ist sie zur Schule gegangen und hat auch dort Politikwissenschaften studiert. 2001 ist sie in die SPD eingetreten. Erstmals öffentlich wurde sie 2010 als Grundsatzreferentin für Interkulturelle Angelegenheiten in der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport. 2014 hat sie der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier ins Auswärtige Amt zur stellvertretenden Sprecherin berufen. Von 2016 bis 2021 war sie Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales. In dieser Funktion begann sie, in den sozialen Medien ihre Stimme zu erheben. Auf Twitter folgen ihr über 120.000 Follower:innen. Dort erlebt sie Hass, aber auch aufrichtige Unterstützung. In ihrem Buch LAUT spricht sie über das Thema Hass im Netz und warum dieser Hass nichts Anderes als digitale Gewalt ist. Das Gespräch führte Zekiye Tolu. 

SWANS: „Du hast eine besondere Geschichte. Wie hast du deine Kindheit erlebt?“ 

Sawsan Chebli: „Ich bin 1978 als zwölftes Kind einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie in Berlin geboren. Elf meiner Geschwister sind im Flüchtlingslager in Libanon geboren und haben dort 20 Jahre im Lager gelebt. Ich war fünfzehn Jahre staatenlos. Mein Vater hatte in den 70er Jahren entschieden, nach Deutschland zu fliehen, um meiner Familie eine bessere Perspektive zu geben. Wir hatten jahrelang nur einen Duldungsstatus. Die Frage, ob dieser Status verlängert wird, also ob wir bleiben durften oder nicht, hing von den Launen der Beamt:innen ab. Mal wurde unser Aufenthalt um zwei Wochen verlängert, mal um ein paar Tage und mal um einen Monat. Da war alles drin. Und all das gesehen und erlebt zu haben, hat mich sehr geprägt. 

Was mich aber am meisten geprägt hat, war, als ich meinen Vater mit fünf Jahren in einer Abschiebehaft besucht habe. Mein Vater wurde zwei Mal abgeschoben. Diesen Gang in die Zelle werde ich niemals vergessen. Ich weiß heute noch, wie sich das angefühlt hat. Ich habe mir sehr früh geschworen, dass ich niemals zulassen werde, dass mich jemand so behandelt. Und ich habe mir geschworen, dass ich alles tun werde, um gegen Unrecht und Ungerechtigkeit zu kämpfen. Ich werde immer meine Stimme erheben und meine Stimme für all die zu nutzen, deren Stimme nicht gehört wird. Das hat mich am Ende dazu gebracht, in die Politik zu gehen und laut zu sein. Meine Biografie ist und war für mich immer ein Motor dafür, Dinge zu tun oder auch nicht. Der Kampf um Gerechtigkeit ist mein moralischer Kompass. Das gibt mir immer wieder die Kraft, laut zu sein und gegen Unrecht zu kämpfen – auch wenn es kompliziert und nicht immer leicht ist.“ 

SWANS: „Wie war der Weg in die Politik?“ 

Sawsan Chebli: „Ich habe Politikwissenschaften studiert – mit dem Ziel, in die Politik zu gehen. Anfangs habe ich mich auch dafür interessiert, in einer politisch internationalen Organisation zu arbeiten und dabei zu helfen, einen unabhängigen Staat Palästina aufzubauen. 

Mein erster Job als Praktikantin war im Bundestag. Dort habe ich mir ein Netzwerk aufgebaut. Mein Ziel war es, nicht nur für Politiker:innen zu arbeiten, sondern selbst Politik zu betreiben. Ich bin mit 21 in die SPD eingetreten. Ich habe dort dann bei Wahlkämpfen unterstützt. Als Frank-Walter Steinmeier für den Bundestag kandidierte, habe ich eine Kampagne für ihn gestartet. Die Kampagne lautete: Wie können wir arabisch-stämmige Menschen davon überzeugen, die SPD zu wählen? So begann meine Karriere in der Politik – und brachte mich dann auch zur Position als Staatssekretärin.“ 

SWANS: „Hast du schwierige Phasen erlebt und wie bist du damit umgegangen?“

Sawsan Chebli: „Mein beruflicher Werdegang verlief nicht steil. Es gab Höhen und Tiefen. Ich hatte auch nie einen Masterplan für mein Leben. Einiges war Glück, vieles Ehrgeiz und geholfen hat sicherlich auch die Fähigkeit, Netzwerke aufzubauen und zu halten.“ 

SWANS: „Was würdest du einer Person empfehlen, die nicht so ehrgeizig ist, aber trotzdem eine Botschaft vertreten will? 

Sawsan Chebli: „Ehrgeiz, familiärer Hintergrund oder Glück dürfen nicht die Bedingung dafür sein, dass man etwas erreicht. Wir brauchen Chancengerechtigkeit, damit alle etwas erreichen können. Es muss auch nicht jede:r ein Frontrunner sein. Es gibt Leute, die stillere Töne wählen, um Haltung zu zeigen. Hauptsache man schweigt nicht, wenn bestimmte Dinge nicht richtig laufen. 

Wichtig finde, dass man sich ein Netzwerk oder Freund:innenkreis aufbaut, die einen stärken und Halt geben. Man muss nicht alles mit sich selbst ausmachen, so wie ich es oft gemacht habe. Ich habe erst spät gemerkt, dass es ok ist, um Hilfe zu fragen. Das hat nichts mit Schwäche zu tun, sich einzugestehen, dass man allein nicht mehr weiterkommt. Es gibt sehr viele wohlwollende Menschen, auf die ich mich verlassen kann. Da kann man Kraft schöpfen. Wenn man einmal die Hürde genommen und die Angst vor Ablehnung überwunden hat – das gibt einem einen ganz schönen Boost.“ 

SWANS: „Was hast du aus der Politik gelernt?“  

Sawsan Chebli: „Resilienz. Denn Politik ist ein hartes „Geschäft“. Ich habe zu Beginn meiner politischen Karriere Menschen fast blind vertraut. Das hat sich im Laufe der Jahre verändert. Ich bin ein wenig vorsichtiger geworden, auch wenn Menschen, die mich kennen, das anders einschätzen würden. Sie sind der Meinung, ich sei immer noch zu offenherzig. Gleichzeitig habe ich unfassbar inspirierende Politiker:innen getroffen, die mein Leben mitgeprägt haben. Ich liebe die Politik, sie ist mein Leben – auch wenn ich gerade sehr mit meiner Partei hadere.“ 

SWANS: „Welchen Einfluss haben die aktuellen Kriege auf dich? 

Sawsan Chebli: „Sie bestimmten mein Leben. Vor allem der Krieg in Gaza. Es tut weh, das Gefühl zu haben, dass ich nichts tun kann. Dieses Gefühl der Ohnmacht wiegt schwer. Das Gefühl, nichts gegen das Unrecht tun zu können, das Palästinenser:innen derzeit erleben – die Bilder von Tod und Zerstörung, all das raubt mir oft den Schlaf.  Es ist schwer, am Ende die Hoffnung zu wahren und zu hoffen, dass das „laut“ Sein irgendwie hilft. Jeden Tag mit dem Leid aufzustehen und ins Bett zu gehen und dabei nicht die Hoffnung an die Menschheit zu verlieren, ist ziemlich schwer. Aber es gibt ja auch keine Alternative, als die Stimme zu erheben, laut zu sein und wo es geht, konkret zu helfen.“ 

SWANS: „Wie schaffst du es, dabei trotzdem den Ausgleich zu finden und deine Gesundheit stabil zu halten? 

Sawsan Chebli: „Ich bin ehrlich gesagt nicht gut darin, mir Auszeiten zu nehmen. Ich rate anderen dazu, Detox-Phasen einzulegen. Eine Reinigung für Körper und Seele ist wichtig.“  

SWANS: „Welche Tipps hast du im Umgang mit Hass im Netz? 

Sawsan Chebli: „Nicht jeder Kommentar oder Kritik ist mit Hass gleichzusetzen. Das verwechseln häufig die Menschen. 100 Kommentare müssen auch kein Shitstorm sein. Das sollte man wissen, um Dinge besser einordnen zu können. Anders verhält es sich bei Beleidigungen, Anfeindungen, Rassismus, Sexismus, Hasskommentaren, die darauf abzielen, einen als Menschen zu treffen – hier sollte man handeln. Denn Hass ist keine Meinung, man muss es nicht auf sich sitzen lassen. Man kann und sollte auch juristisch dagegen vorgehen. Es gibt mittlerweile Organisationen wie HateAid, an die man sich wenden kann, wenn man Opfer von digitaler Hasskriminalität wird. Es ist wichtig, den Rechtsweg zu gehen – auch wenn es mühsam ist, der Weg lang und teilweise auch sehr kostspielig ist.  

In meinem Buch „LAUT“ teile ich eine konkrete Handlungsanleitung zum Thema Hass und wie man damit umgehen kann.“ 

SWANS: „Was möchtest du unserer Community gerne mitgeben?“ 

Sawsan Chebli: „Das klingt immer banal, aber ich empfehle den Glauben und die Kraft an die eigene Stärke nicht zu verlieren. Beim ersten Windstoß nicht gleich zu denken, dass die Welt einbricht, sondern daran zu glauben, dass der Sturm auch wieder vergeht. Es ist vielleicht leicht zu sagen, aber mit jedem Tief entsteht auch immer etwas Neues. Es ist zudem wichtig, von Menschen umgeben zu sein, die einen hochziehen, begeistern, gute Menschen sind, sich ein Netzwerk und Vorbilder zu suchen, die einen inspirieren.  

Wichtig ist auch eine gewisse Entspanntheit im Umgang mit Zielen. Ich hatte nie einen Masterplan, bei dem ich dachte, ich will jetzt dies und jenes erreichen. Es kam eh anders als gedacht, deshalb muss man das auf sich zukommen lassen. Ich hätte nie gedacht, dass ich Staatsekretärin werde. Ich habe nie darauf hingearbeitet. Ich habe auf eine Position hingearbeitet, wo ich etwas verändern kann und dass es diese Stelle wurde, war Zufall, Glück und Ehrgeiz. Was ich häufig bei jungen Leuten sehe, ist, dass sie einen klaren Plan haben, wie der Berufsweg zu verlaufen hat. Das wird schwierig, weil es auch Rückschläge gibt, die wahnsinnig enttäuschend sein können.  

Genauso wichtig ist es, sich strategisch ein Netzwerk aufzubauen, Veranstaltungen zu besuchen, für die man sich interessiert. Man sollte mit Menschen im Austausch bleiben, von denen man denkt, dass sie einen potenziell weiterbringen könnten. Ich habe als Studentin nach Veranstaltungen den Leuten eine Mail geschrieben, um in Erinnerung zu bleiben. Ich würde zudem nicht unzählige Praktika absolvieren, sondern mir gezielt welche raussuchen, die mich für die nächsten Schritte und im weiteren Vorhaben weiterbringen. 

Bei allem, was man angeht, ist es wichtig, die Menschlichkeit zu bewahren und nicht abzuhärten.“ 

SWANS: „Vielen Dank für das Gespräch!“ 

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