Vorbilder

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Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo: „Life begins at the end of your comfort zone.“

Prof. Dr. Marylyn M. Addo ist seit 2017 W3-Professorin für Infektiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), wo sie die Abteilung für Infektionskrankheiten leitet und Gründungsdirektorin des Instituts für Infektionsforschung und Impfstoffentwicklung ist. Ihr Forschungsgebiet sind insbesondere Virusimmunologie und Impfstoffstrategien gegen neu auftretende Viruserkrankungen. Dazu gehören klinische Studien mit neuartigen Impfstoffkandidaten gegen Viren wie MERS (Middle East Respiratory Syndrome) und Ebola. Seit 2013 ist sie am UKE tätig. Ihre medizinische Ausbildung als Internistin und Infektiologin verlief von Bonn über Frankreich, die Schweiz und London bis nach Boston (Harvard Medical School). Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo ist 1970 in Bonn geboren und hat zwei Kinder. Dieses Interview führte Zekiye Tolu SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“ Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo: „Ich bin als Tochter eines ghanaischen Vaters und einer deutschen Mutter zusammen mit meinem Bruder in einer Kleinstadt im Rheinland aufgewachsen. Ich würde meine Kindheit und Jugend als behütet und glücklich bezeichnen. Zunächst war ich zwei Jahre in einem englischen Kindergarten und einer Preschool, danach wechselte ich ins deutsche Schulsystem und machte dort mein Abitur. Schon früh begann ich mit Ballett, interessierte mich für Kunstturnen und Voltigieren und spielte Querflöte. Ich engagierte mich in der katholischen Jugendarbeit und sang in einem Jugendchor. Die Ferien verbrachte ich oft sehr naturverbunden auf dem Bauernhof meines Großvaters in der Eifel: Kühe auf die Weide bringen, melken, Traktor fahren, bei der Ernte helfen – viel Aktion mit elf Cousinen und Cousins. Später betreute ich Jugendfreizeiten und Zeltlager.“ SWANS: „Gab es Vorbilder, die Sie früh geprägt haben und einen positiven Einfluss auf Sie hatten?“ Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo: „In meiner Kindheit wurde ich vor allem von meinen Eltern als Vorbilder geprägt. Mein Vater war ein kluger Mann – eher zurückhaltend, aber sehr warmherzig. In seiner Tätigkeit als Arzt hat er viele Menschen auch jenseits des Medizinischen berührt – das hat mich stets beeindruckt und auch ein wenig stolz gemacht. Sein Weg aus einer kleinen Stadt in Ghana, ohne akademischen Hintergrund und mit begrenzten finanziellen Ressourcen, über gute schulische Leistungen und Stipendien bis hin zum Medizinstudium in Deutschland, hat mich immer inspiriert. Aus diesem Lebensweg heraus entstand auch sein oft zitierter Satz: „Was du weißt, kann dir keiner nehmen.“ In diesem Zusammenhang verwies er oft auf Nelson Mandela, dessen Persönlichkeit in unserer Familie sehr präsent war – insbesondere als Vorbild für Resilienz und Integrität. Meine Mutter stammte aus einem kleinen Dorf in der Eifel, ging mit 15 Jahren für eine Ausbildung nach Bonn und wurde früh selbstständig. Für beide Elternteile war ihre „mixed-race“-Beziehung in ihren Herkunftsfamilien eigentlich ein No-Go. Sie haben diese Verbindung trotz anfänglichem Widerstand und rassistischen Anfeindungen mit großem Mut, viel Liebe und beeindruckender Stärke gelebt. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar für ihre Unterstützung und dafür, dass sie meine Neugier und Entdeckungslust stets gefördert haben – auch wenn die finanziellen Möglichkeiten oft begrenzt waren. In manchen Familien mit Migrationshintergrund in meinem Umfeld wurde viel Druck auf die Kinder ausgeübt, etwa nach dem Motto: „Ihr müsst immer besser sein als die anderen.“ Das war bei uns nie ein Thema. Bildung, Lernen und Lesen wurden wertgeschätzt und gefördert – aber um der Sache willen, nicht aus Leistungsdruck. In meiner späteren beruflichen Laufbahn wurde ich von wunderbaren Mentorinnen und Mentoren begleitet – unter anderem von Prof. Bruce Walker und Prof. Jürgen Rockstroh. Auch Michelle Obamas Zitat: „When they go low, we go high“ begleitet mich bis heute in vielen Situationen.“ SWANS: „Was hat Sie dazu bewegt zu studieren und warum haben Sie sich für die medizinische Richtung entschieden?“ Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo: „Ich war schon immer wissbegierig, habe mit Begeisterung gelesen und gerne Neues gelernt. Der medizinische Beruf faszinierte mich früh, weil er so facettenreich ist: Von der Patientenbetreuung in Klinik oder Praxis über Wirtschaft und Industrie bis hin zu Beratung, Lehre und Forschung eröffnen sich viele spannende Wege. Nach dem Abitur habe ich ganz bewusst und sehr intensiv auch andere Studiengänge in Betracht gezogen – kurz standen Chemie, Lebensmittelchemie, Philosophie und Theologie im Raum –, weil es mir fast zu ‘klischeehaft’ erschien, als Tochter eines Arztes ebenfalls Medizin zu studieren. Letztlich entschied ich mich dann doch für die Medizin – und habe es nie bereut. Dass ich heute in der Forschung und als Professorin tätig bin, hatte ich zu Beginn meines Studiums weder geplant noch auch nur in Erwägung gezogen. Ursprünglich wollte ich Kinderärztin werden – auch motiviert durch meine langjährige Jugendarbeit in Sport und Gemeinde (als Trainerin, bei Zeltlagern, Ferienfreizeiten und als Camp Counselor in den USA). Später interessierte ich mich für Gynäkologie und Geburtshilfe – bis mich schließlich die Begeisterung und Leidenschaft für die Infektiologie gepackt hat und nicht mehr losließ. Die (eigentlich sehr lustige) Geschichte dazu sprengt hier den Rahmen, aber ich erzähle sie gern, um zu zeigen: Viele Menschen in Leitungspositionen haben keine geradlinigen Lebensläufe. Oft sind sie bunt, vielfältig – und manchmal auch überraschend. Deshalb ermutige ich meine Mentees und Mitarbeiter:innen ausdrücklich dazu, ihren eigenen Weg zu finden. Dieser darf auch mal eine Schleife drehen oder vorübergehend in einer Sackgasse enden. Dann braucht es manchmal Mut zur Umorientierung und die Bereitschaft, sich neu auszurichten.“ SWANS: „Wie fühlten Sie sich in den USA im Vergleich zu Deutschland? Haben Sie in eines der Länder Rassismus erfahren? Wenn ja, wie sind Sie damit umgegangen?“ Prof. Dr. med. Marylyn M. Addo: „In den USA habe ich im sehr liberalen und internationalen Boston im Bundesstaat Massachusetts gelebt. Ich habe mich dort mit meiner Familie in einem vielfältigen und internationalen Umfeld sehr wohlgefühlt und tatsächlich kaum oder nur wenig Rassismus erlebt. Fast im Gegenteil – in den Institutionen, in denen ich gearbeitet habe, gab es zahlreiche Förderprogramme, Stipendien und Netzwerke für Diversity, Equity und ‚underrepresented minorities‘, von denen auch ich profitieren durfte. Das ist sicherlich nicht überall in den USA der Fall. In Deutschland jedoch habe ich – wie wahrscheinlich fast jede*r BIPOC – im Laufe meines Lebens immer wieder Rassismus und Diskriminierung erfahren: manchmal subtil, manchmal aggressiv, manchmal aus Ignoranz oder Unbedachtheit. Von verbalen Anfeindungen

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Marjam Al Hakim: „Ich baue mein eigenes Imperium auf.“

Marjam Al Hakim ist Wissenschaftlerin, Unternehmerin und Gründerin von SKINSDIAMOND aus Frankfurt am Main sowie des SKIN INSTITUTION in Dubai. Mit einem ganzheitlichen Ansatz vereint sie fundierte Forschung mit innovativer Produktentwicklung für ganzheitliche Hautgesundheit von innen und außen. Ihr Gesundheitskonzept, das 2025 nach vierjähriger Forschung und Entwicklung gelauncht wurde, basiert auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und wird unter dem Qualitätsanspruch „Science Made in Germany“ umgesetzt. Nach einem zunächst begonnenen Studium der Zahnmedizin entschied sie sich – motiviert durch ihre eigenen Erfahrungen mit Akne – für ein Studium der Ernährungswissenschaften (B.Sc. & M.Sc.) mit Spezialisierung auf Dermatologie und Physiologie. Ihre Forschung konzentriert sich auf Antioxidantien, oxidativen Stress und die intrinsische und extrinsische Hautalterung. Parallel berät sie Ärzt:innen und Chirurg:innen deutschlandweit zu evidenzbasierter Nahrungsergänzungsmittel vor und nach chirurgischen Eingriffen. Das Gespräch führte Zekiye Tolu.  SWANS: „Wie würdest du deine Kindheit beschreiben? Wie bist du aufgewachsen?“ Marjam Al Hakim: „Ich bin in einer großen, sehr vielfältigen Familie aufgewachsen – geprägt von zwei Kulturen und einer bewegten Geschichte. Mein Vater stammt aus dem Irak, meine Mutter aus dem Iran. Mitten in dem Iran Irak Krieg fand mein Vater seine Liebe im Iran- meine Mutter. Dort habe ich gelebt, bis ich fünf war, umgeben von den Einflüssen zweier unterschiedlicher Kulturen, aber auch den Herausforderungen, die ein Leben im Exil mit sich bringt. Trotz der politischen Umstände und den damit verbundenen Schwierigkeiten war mein familiäres Umfeld stark von Bildung geprägt. Ich komme aus einer akademisch orientierten Großfamilie, in der Wissen, Widerstandskraft und kulturelle Vielfalt zentrale Werte waren – und bis heute sind.“ SWANS: „Wie ist das für dich mit zwei Kulturen im Herzen– hast du beide Kulturen integriert oder hast du dadurch einen inneren Konflikt?“ Marjam Al Hakim: „Ich habe einen tiefen inneren Konflikt durchlebt – einen, den viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte kennen. Eine Identitätskrise, die mich lange begleitet hat. Vielleicht sollte man erst darüber sprechen, nachdem man sich ein Stück weit selbst gefunden hat. Bei mir begann dieser Prozess, als ich mit fünfeinhalb Jahren nach Deutschland kam. Damals hatte ich meinen Vater anderthalb Jahre lang nicht gesehen. Er war früh nach Deutschland gegangen, um uns ein Leben zu ermöglichen, das wir im Iran so nicht hätten führen können. Besonders mir sollte ein erfolgreiches Studium ermöglicht werden. Für ihn, selbst aus einer akademischen Familie, war Bildung ein essenzieller Wert. Seine Entscheidung, alles zurückzulassen, war getragen von der Hoffnung auf unsere Zukunft. In Deutschland angekommen, geriet ich jedoch in eine tiefere Identitätskrise. Ich wuchs mitten in Frankfurt auf – als eines der wenigen ausländischen Kinder im Kindergarten. Ich erinnere mich an eine Szene, die sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat: Ich wollte halal oder vegetarisch essen. Statt Verständnis zu erfahren, wurde ich in eine dunkle Ecke gesetzt – mit den Worten, dass es bei uns nur das gebe, was auf den Tisch kommt. In dem Moment begann ich, alles zu hinterfragen: Wer bin ich? Was ist richtig? Wer möchte ich sein – oder darf ich ich selbst sein? Zu Hause lebte ich mit drei Kulturen unter einem Dach: der deutschen, der arabischen und der persischen. Meine Eltern begegneten einander mit großem Respekt, sprachen beide Sprachen – von meinem Vater lernte ich Arabisch, von meiner Mutter Persisch. Und doch wusste ich lange nicht, wo mein Platz war. Jahrelang habe ich die arabische Seite in mir verdrängt und mich fast ausschließlich als Perserin gesehen. Es hat lange gedauert, bis ich auch zu meinen arabischen Wurzeln zurückgefunden habe – und plötzlich erkannt habe, wie reich, wie schön diese bunte Welt ist. Und heute? Heute sage ich: Ich bin Iranerin. Ich bin Araberin. Und ich bin Deutsche. Keine dieser Identitäten lässt sich von mir trennen – Ich bin Mensch. In einem arabischen Land spüre ich, wie sehr ich auch deutsch und persisch bin. Im Iran spüre ich meine arabische und deutsche Seite. Und in Deutschland bin ich alles zugleich – und das ist nicht nur okay, das ist meine Stärke.“ SWANS: „Gab es Vorbilder, die dich früh geprägt haben und einen positiven Einfluss auf dich hatten?“ Marjam Al Hakim: „Es waren nie große Namen oder bestimmte Menschen, die mich inspiriert haben – es waren immer die Taten. Schon als Kind hat mich eine Zahl tief bewegt: Alle dreizehn Sekunden stirbt irgendwo auf der Welt ein Kind, oft in Afrika, an Nährstoff- und Vitaminmangel. Dieser Gedanke hat sich fest in mir verankert. Ich hatte früh eine Vision – ich wollte die Kapsel erfinden, die Leben rettet. Ich sah mich selbst eines Tages in Afrika, mit genau diesen Kapseln, um Kinder zu unterstützen, die keine andere Hilfe bekommen. Was mich bewegt hat, war kein Ruhm. Es war ein Kind, das alle dreizehn Sekunden stirbt – und die Frage: Wie kann ich das ändern? Wie schön sagte der einzigartige Avicenna: ‘The healing of the part should not be attempted without treatment of the whole.’ – Avicenna (Abū ʿAlī Sīnā) Genau das war mein Antrieb: Den Menschen nicht nur als Körper zu sehen, sondern als Ganzes – als ein soziales, kulturelles und einzigartiges Individuum – und Lösungen zu schaffen, die Generationen begleitet. Konkrete Vorbilder hatte ich nie. Keine Stars, keine berühmten Persönlichkeiten. Was mich geprägt hat, waren die Geschichten – die Handlungen von Menschen, die sich für andere einsetzen. Natürlich gab es in meiner Familie starke, erfolgreiche Ärztinnen, die mich informiert und unterstützt haben. Hilfsorganisationen, die junge Frauen in ihrer Entwicklung unterstützen, haben mich immer beeindruckt. Aber es gab nie jemanden, bei dem ich dachte: Genau so will ich sein. Vielleicht auch, weil ich mich in niemandem wiedergefunden habe. Die Mischung, die ich bin – die habe ich nie gesehen. Und genau das hat mich angetrieben: Der Wunsch, das zu verkörpern, was ich selbst vermisst habe.“ SWANS: „Was hat dich dazu bewegt zu studieren?“ Marjam Al Hakim: „Ich war schon immer eine Rebellin – in allem, was ich tue. Während für meinen Vater klar war, dass ich Ärztin werde, war für mich irgendwann klar: Ich gehe meinen eigenen Weg. Zwar hatte ich als Kind den Traum, Zahnärztin zu werden, und fing mit dem ersten

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Awet Tesfaiesus: „Vernetzung ist der wahre entscheidende Schlüssel.“

Frau Awet Tesfaiesus zog 2021 als erste Schwarze Frau in den Deutschen Bundestag ein. Dort ist sie Mitglied im Rechtsausschuss und Obfrau im Ausschuss für Kultur und Medien. Zuvor war sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Sprecherin für Antidiskriminierungspolitik sowie kommunalpolitisch in Kassel aktiv – als Stadtverordnete, Sprecherin für Integration und Vorsitzende eines Gleichstellungsausschusses. Ihr politisches Engagement begann 2009 mit dem Beitritt zu Bündnis 90/Die Grünen. Bereits 2007 hatte sie eine Kanzlei für Asyl- und Sozialrecht gegründet, nachdem sie 2006 als Rechtsanwältin zugelassen worden war. Geboren in Asmara, Eritrea, kam sie als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland und studierte später Rechtswissenschaften in Heidelberg. Dieses Interview führte Zekiye Tolu.  SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“ Awet Tesfaiesus: „Ich kam mit etwa elf Jahren nach Deutschland – in einem Alter, in dem ich die Sprache und kulturellen Unterschiede sehr bewusst wahrgenommen habe, aber gleichzeitig jung genug war, um in die neue Welt hineinzuwachsen. Das empfand ich als großes Geschenk: Ich durfte in zwei Welten leben, beide Kulturen verstehen und zwischen ihnen vermitteln. Als Kind wurde ich schnell zur Brücke zwischen meiner Herkunft und der neuen Umgebung – zu Hause, in der Schule, im Alltag. Ich lernte, wie unterschiedlich Gesellschaften funktionieren, wie relativ viele Normen und Werte sind – und dass Bescheidenheit und Gemeinschaftssinn genauso berechtigt sein können wie Selbstverwirklichung und Individualismus. Doch meine Kindheit war auch geprägt von der Frage: ‚Gehöre ich hierher?‘ – gerade in den 1990ern in meiner Oberstufenzeit, als rassistische Anschläge wie in Mölln, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen mein Sicherheitsgefühl erschütterten. Ich erlebte diese Zeit als zutiefst prägend und existenziell: Will ich in einem Land bleiben, das mich möglicherweise nicht will? Selbst während meines Übergangs ins Studium war Angst ein ständiger Begleiter – etwa, wenn ein Studienplatz in Ostdeutschland angeboten wurde, und Familie und Freunde warnten, dorthin zu gehen. Trotz aller Herausforderungen blicke ich auf meine Kindheit mit Dankbarkeit – sie hat mir Resilienz geschenkt, Perspektivwechsel ermöglicht und mein Verständnis für kulturelle Vielfalt grundlegend geprägt.“ SWANS: „Sie sind dann in Deutschland geblieben und haben studiert. Was hat Ihnen geholfen diese schwierige Zeit zu überwinden und wie sind Sie damit umgegangen?“ Awet Tesfaiesus: „Letztlich bin ich aus ganz pragmatischen Gründen in Deutschland geblieben – mein Wunsch zu studieren, die Sprache, die ich inzwischen am besten beherrschte, und die finanziellen Hürden eines Studiums im Ausland ohne deutsche Staatsangehörigkeit haben mich dazu bewogen. Entscheidend war aber auch die Wahl meines Studienorts: Heidelberg. Ich habe die Stadt bewusst gewählt, weil sie durch die Präsenz der US-Armee stark international geprägt war – mit einer offenen, positiven Haltung gegenüber Menschen mit internationaler Biografie. Dort habe ich einen vielfältigen Freundeskreis gefunden, in dem Nationalität keine Rolle spielte. Das hat mir ermöglicht, mich von ständigen Zuschreibungen wie ‚Bist du Deutsch oder eritreisch?‘ zu lösen. Zum ersten Mal konnte ich einfach ich selbst sein – in einem Umfeld, in dem „Anderssein“ die Norm war. Diese Erfahrung hat mir sehr geholfen, innerlich zur Ruhe zu kommen und mich zu finden.“ SWANS: „Gab es Vorbilder, die Sie früh geprägt haben und einen positiven Einfluss auf Sie hatten?“ Awet Tesfaiesus: „Mein Großvater war für mich ein tief prägendes Vorbild. Er war Richter in Eritrea – in einem System, in dem Justiz nicht unabhängig war, sondern unter politischem Druck stand. Und trotzdem hat er Haltung gezeigt, hat sich geweigert, seine Urteile politisch beeinflussen zu lassen. Dafür hat er einen hohen Preis gezahlt. Was mich aber besonders beeindruckt hat, war, dass er trotz der Möglichkeit, seine Stellung zum eigenen Vorteil zu nutzen, standhaft geblieben ist. Dieses Bild von Integrität, Mut und Verantwortung hat sich in mir eingebrannt und mich bis heute geprägt. Vielleicht hat mich auch deshalb der Weg zum Jurastudium so angesprochen. Für mich war das nicht nur ein Studium – es war der Versuch, ein Land und seine Gesellschaft wirklich zu verstehen. Als Kind aus einer geflüchteten Familie hatte ich oft das Gefühl, außen vor zu sein – die Schule war das eine, aber wie Menschen hier denken, was sie antreibt, das wollte ich wirklich begreifen. Und ich hatte das Gefühl: In den Gesetzen, in den Normen liegt der Schlüssel dazu. Zugleich war da immer dieser Wunsch, etwas zurückzugeben. Ich bin nicht dort, wo ich heute bin, weil ich alles allein geschafft habe. Ich hatte Glück – mit Eltern, die für mich gekämpft haben, mit Menschen, die an mich geglaubt und mir Chancen gegeben haben. Ich war das elfjährige Kind, das getragen wurde. Und daraus ist ein tiefer Wunsch entstanden: gesellschaftlich etwas zu bewirken, Verantwortung zu übernehmen, vielleicht auch für andere Brücke zu sein – so wie andere es einst für mich waren.“ SWANS: „Warum haben Sie sich für die Politik entschieden? Was ist ihr Antrieb?“ Awet Tesfaiesus: „Ich habe meine Arbeit als Anwältin immer als politisch empfunden – Recht war für mich nie nur Theorie, sondern ein Instrument für Gerechtigkeit. Lange war ich aber kein Mitglied einer Partei. Das änderte sich Mitte der 2000er-Jahre, als sich die Fluchtrouten nach Europa veränderten. Plötzlich kamen Menschen über das Mittelmeer – diese dramatischen Bilder von Urlauber:innen an europäischen Stränden, während Boote mit Geflüchteten anlandeten, haben sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Und mit den Bildern kamen die Nachrichten: von Menschen, die ertranken, von denen man wusste – und denen trotzdem nicht geholfen wurde. Das war für mich ein Wendepunkt. Ich spürte, dass ich als Anwältin an Grenzen stieß. Was wir brauchten, war keine Einzelfallhilfe mehr – wir brauchten politische Veränderung. Also begann ich, mich aktivistisch zu engagieren, gemeinsam mit anderen aufzuklären und Missstände sichtbar zu machen. Doch irgendwann reichte mir das nicht mehr. Ich wollte dort mitwirken, wo Entscheidungen getroffen werden. Ich wollte mitgestalten statt nur reagieren. Und das war der Moment, in dem ich mich entschieden habe, in eine Partei einzutreten – weil Veränderung Gesetze braucht, und Gesetze brauchen Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.“ SWANS: „Warum sollte ich mich als junge Frau mit Einwanderungsgeschichte politisch engagieren und welche ersten Schritte sind dafür erforderlich?“ Awet Tesfaiesus: „Jeder Mensch, der in diesem Land lebt, hat Themen, die ihn

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Dilan Küçük: „Deutschland ist leider nicht auf Gründerfreundlichkeit oder Diversität ausgelegt.“

Dilan Küçük ist Gründerin und Creative Director der Beauty-Brand NAILD – der ersten Marke, die wiederverwendbare Press-on Nails in dieser Form nach Deutschland gebracht hat. Als dreifache Mutter und Unternehmerin steht Dilan für eine neue Generation von Gründerinnen: sichtbar, lösungsorientiert und nah an der Lebensrealität ihrer Community. Sie setzt sich aktiv für mehr Sichtbarkeit und Chancengleichheit von Menschen mit Migrationsgeschichte in der deutschen Gründerszene ein. Aufgewachsen in Berlin in einer Familie mit Einwanderungsgeschichte und einfachen Verhältnissen, hat sie früh gelernt, sich selbstständig durchzusetzen. Nach ihrer Ausbildung beim Bundesrat und einem berufsbegleitenden Studium in International Management gründete sie 2017 – zunächst nebenberuflich – ihr Unternehmen, das heute über 100.000 Kund:innen europaweit erreicht. Das Gespräch führte Zekiye Tolu. SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“ Dilan Küçük: „Ich bin in Berlin aufgewachsen – in einfachen Verhältnissen. Meine Mutter war Pflegekraft, mein Vater Busfahrer. Wir lebten zu fünft in einer kleinen Wohnung, was bedeutete, dass ich früh Verantwortung übernehmen musste. Materiell war nicht viel da, aber was ich mitbekommen habe, war Stärke, Pragmatismus und der Drang, sich Dinge selbst beizubringen. Ich gehöre zu einer Generation, in der DIY nicht Trend war, sondern Notwendigkeit. Schon mit 16 Jahren arbeitete ich immer neben der Schule. Und auch davor habe ich in den Ferien in Apotheken Regale eingeräumt oder in der Bäckerei Brötchen aufgebacken. Ich habe früh gelernt, dass man etwas tun muss, wenn man etwas erreichen will.“ SWANS: „Wie sind Sie zu Ihrem Studium gekommen? Hatten Sie relativ schnell eine klare Richtung oder hat sich das entwickelt?“ Dilan Küçük: „Ich hatte nie den Luxus, in Ruhe nach meinem ‘Traumberuf’ zu suchen. Nach dem Abitur erhielt ich einen Ausbildungsplatz im Bundesrat – eine Stelle, die über die Arbeitsagentur gezielt für Bewerber:innen mit Migrationshintergrund ausgeschrieben war, um die Quote zu erfüllen. Mehrere Bewerbungen gingen bis dato ins Leere, trotz Abitur und Überqualifizierung. Ein Studium kam erstmal nicht in Frage, da ich ja Geld verdienen musste. Die Ausbildung war meine einzige Option. Ich habe mich über Leistung bewiesen, die Ausbildung verkürzt und mit der Note 1,0 abgeschlossen. Anschließend erhielt ich eine Begabtenförderung des Bundesverwaltungsamts, mit der ich ein berufsbegleitendes Abendstudium in International Management finanzieren konnte – parallel zu meiner Vollzeitstelle. Damals war ich die erste Chefsekretärin mit türkischem Nachnamen im Büro eines Bundesministeriums. Mein Weg war geprägt von Pflichtgefühl, Disziplin und Ehrgeiz – weniger von Planbarkeit. Doch genau diese Erfahrungen haben mich gelehrt, Verantwortung zu übernehmen, strukturiert zu arbeiten und immer Lösungen zu finden. All das hat mich optimal auf die Selbstständigkeit vorbereitet.“ SWANS: „Gab es Vorbilder, die Sie früh geprägt haben und einen positiven Einfluss auf Sie hatten?“ Dilan Küçük: „Ich hatte keine klassischen unternehmerischen Vorbilder, aber ich bin von Menschen geprägt worden, die mir früh gezeigt haben, was Durchhaltevermögen und innere Stärke bedeuten. Mein Vater ist Akademiker, kam aus der Türkei und arbeitete hier als Busfahrer, um seine Familie zu ernähren. Meine Mutter ist nie zur Schule gegangen, hat sich aber selbst weitergebildet, spricht fließend Deutsch und hat mir beigebracht, Potenzial dort zu sehen, wo andere es nicht erkennen. Und meine Tante hat unter sehr schwierigen Bedingungen promoviert und einen Bundesverband für geflüchtete Frauen gegründet – heute bekannt als DaMigra. Diese Menschen haben mir vorgelebt: Es braucht keine perfekten Voraussetzungen, sondern Mut, Haltung und den festen Willen, seinen Weg zu gehen.“ SWANS: „Was hat Sie dazu bewegt, ein Unternehmen mit Press-On-Nägeln zu gründen?“ Dilan Küçük: „Es war eine ganz persönliche Notlösung. Als Mutter hatte ich keine Zeit mehr fürs Nagelstudio – aber den Wunsch nach gepflegten Nägeln. Gleichzeitig kannte ich aus meiner Jugend die DIY-Nagelkultur sehr gut. Ich habe gemerkt: Es gibt nichts, das beides kombiniert – Qualität, Zeitersparnis, Wiederverwendbarkeit. Und so wurde aus meinem Problem eine Produktidee.“ SWANS: „Nehmen wir an, ich habe eine grandiose Produktidee mit einem klaren Alleinstellungsmerkmal. Womit starte ich und was brauche ich, um erfolgreich zu sein?“ Dilan Küçük: „Mit der Zielgruppe und das Problemverständnis. Bevor du entwickelst, frag dich: Wen willst du erreichen? Welches Problem löst dein Produkt konkret? Und dann: Prototyp bauen, Feedback einsammeln und iterieren. Und ganz wichtig – fang ganz früh mit Community-Aufbau an.“ SWANS: „Um ein Produkt zu launchen braucht es finanzielle Mittel. Welche Möglichkeiten empfehlen Sie, wenn das Budget noch nicht ausreicht?“ Dilan Küçük: „Bootstrapping bedeutet, ein Unternehmen mit eigenen Mitteln und ohne große Investor:innen aufzubauen – genau diesen Weg bin ich selbst gegangen. Man startet klein, spart, investiert klug und finanziert alles Schritt für Schritt aus den eigenen Einnahmen. Aber ich empfehle auch: Schau dir Förderprogramme an, sprich mit Familie und Freund:innen über Unterstützung, teste Vorverkäufe, um erste Einnahmen zu generieren – und ganz wichtig: Kalkuliere realistisch. Wenn du klein anfängst, kannst du später gesund und solide wachsen.“ SWANS: „Was war bisher die größte Herausforderung im Unternehmertum und wie haben Sie diese gelöst?“ Dilan Küçük: „Die Finanzierungsfrage. Ich wurde von drei Banken abgelehnt, ohne mich überhaupt richtig vorstellen zu können. Erst die vierte Bank hat mir zugehört – das war ein Schlüsselmoment. Es war nie leicht, aber ich habe gelernt, dass Hartnäckigkeit und Klarheit im Geschäftsmodell überzeugen können.“ SWANS: „Hatten Sie als Frau mit Einwanderungsgeschichte bisher mehr Hürden auf Ihrem Karriereweg? Wie sind Sie damit umgegangen?“ Dilan Küçük: „Ja. Nicht nur im Geschäftsleben – auch davor. Ich musste mich oft doppelt beweisen, wurde unterschätzt, nie von allein eingeladen. Ich habe gelernt, dass du dich selbst sichtbar machen musst – und dass Leistung allein leider nicht immer reicht. Aber genau deshalb erzähle ich meine Geschichte heute öffentlich.“ SWANS: „Wir leben in einem bürokratischen Land. Gab es auch Momente, in denen Sie an der Bürokratie verzweifelt sind? Was würde eine Gründung erleichtern?“ Dilan Küçük: „Ja, unzählige Momente. Bürokratie ist in Deutschland leider nicht auf Gründerfreundlichkeit ausgelegt – und schon gar nicht auf Diversität. Ich wünsche mir mehr digitale, niedrigschwellige Angebote und echte Beratung für Menschen, die keinen akademischen Hintergrund mitbringen. Ich komme aus der Verwaltung und weiß genau wie ich mich wohin wenden muss, wenn ich ein Problem habe und auch, wie ich Bescheide und Anträge verstehen muss – ich sehe

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Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Ich konnte das Schulgelände nicht betreten, ohne im Mülleimer zu landen.“

Frau Prof. Dr. Riem Spielhaus ist Professorin für Islamwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen und leitet die Abteilung Wissen im Umbruch am Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut in Braunschweig. Sie war postdoc fellow am Center for European Islamic Thought der Universität Kopenhagen (Dänemark) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Islam und Recht in Europa der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin, ihre im Ergon-Verlag publizierte Dissertation zu Islamdebatten und Selbstpositionierungen von Muslim:innen in Deutschland wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2010 ausgezeichnet. Sie studierte Islamwissenschaften und Afrikawissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin. Ihre Publikationen befassen sich mit islamischer Religionspraxis und der Moscheelandschaft in Deutschland, mit der Wissensproduktion zu Islam und Muslim:innen in Europa sowie mit Diversität, Diskriminierung und Bildung. Seit 2016 forscht und publiziert sie vor allem zur Darstellung von Minderheiten und Diskriminierten in Schulbüchern. Das Gespräch führte Zekiye Tolu.   SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“   Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Ich bin in der DDR geboren und aufgewachsen – oder besser gesagt: Nicht ich habe das Land verlassen, sondern das Land hat mich verlassen. Meine Familie war schon immer ein bisschen anders. Mein Vater, ein Karikaturist, und meine Mutter, eine Sprachwissenschaftlerin, passten nicht in die klassische Norm. Bei uns gab es kein Abendessen um Punkt 18 Uhr, aber dafür immer Besuch. Unsere Wohnung war ein Ort der Begegnung – für Freund:innen meiner Geschwister, die Trost suchten, für Bekannte meiner Eltern aus aller Welt.   Die Welt war ohnehin immer präsent in unserer Familie. Mein Vater kam aus Ägypten, meine Mutter kam in Schweden zur Welt, weil ihre Eltern vor den Nazis dorthin geflohen waren. Doch laut Statistik gilt sie nicht als Migrantin, weil sie ja bereits 1946 nach Deutschland gekommen war. Ein Beispiel dafür, wie offizielle Kategorien Migration oft nicht erfassen. Ihre Forschung zu ostafrikanischen Sprachen hat mich geprägt, ebenso wie die Fragen, die mir zu meiner eigenen Herkunft gestellt wurden. Mein Name, meine Familie – all das hat mich neugierig gemacht, so dass ich schließlich Islamwissenschaft und Afrikawissenschaft studierte, um mehr zu verstehen.   Ironischerweise wusste ich lange kaum etwas über die erste Kindheitsjahre meiner Mutter. Erst als ich etwas mit 40 in Stockholm zu Besuch war, fragte ich sie, wo genau sie in Stockholm lebte – und war überrascht, denn sie in Uppsala aufgewachsen ist. Es war ein Aha-Moment: Was ich über meine Familie wusste, war stark von äußeren Zuschreibungen bestimmt. Die Fragen, die mir immer wieder zu meinem ägyptischen Vater gestellt wurden, hatten meine Aufmerksamkeit gelenkt.   Heute arbeite ich am Leibniz-Institut für Bildungsmedien in Braunschweig und beschäftige mich genau mit solchen Fragen: Wie prägen Schulbücher unser Bild von Migration, Religion und Identität? Welche Geschichten werden erzählt – und welche nicht? Mein eigener Weg hat mir gezeigt, wie entscheidend es ist, welche Perspektiven sichtbar gemacht werden. Denn sie beeinflussen, ob wir uns als Teil der Gesellschaft wahrnehmen – oder als Ausnahme.“   SWANS: „Haben Sie Rassismus in der DDR erlebt und wie sind Sie damit umgegangen?“   Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Ich habe in der DDR-Rassismus erlebt, besonders in der Schule. In der zweiten Klasse hatte ich ein ganz schlechtes Schuljahr. Ich kam regelmäßig zu spät zum Unterricht, weil ich vorher das Schulgelände nicht betreten konnte, ohne dass ich im Mülleimer oder in der Garderobe landete. Meine Lehrerin ignorierte es – oder duldete es bewusst. Erst als meine Mutter davon erfuhr und die Eltern der anderen Kinder anrief, hörte es plötzlich auf. Die Eltern wollten nicht, dass sich ihre Kinder rassistisch und übergriffig verhalten, sprachen mit ihnen und völlig überraschend hörte es damit auf. Rückblickend rätsele ich heute noch: Warum hatte ich nicht früher etwas gesagt?   Gleichzeitig gab es für mich einen Ort, der vollkommen anders war: Ein Musikensemble, gegründet von der jüdischen Kommunistin Anni Sauer, die vor den Nazis fliehen musste und in der Sowjetunion 18 Jahre lang in einem Gulag lebte. Hier war Vielfalt selbstverständlich –Kinder mit russischen, lateinamerikanischen oder afrikanischen Eltern wurden hier natürlich nicht gehänselt. Wir sangen Lieder in verschiedenen Sprachen, lernten von Künstler:innen aus aller Welt und erlebten eine rassismusfreie Gemeinschaft.   Die DDR propagierte offiziell Völkerfreundschaft, doch Rassismus existierte. Man konnte aber nicht darüber sprechen, weil er nicht ins sozialistische Selbstbild passte. Es gab kaum Raum, um über Diskriminierung zu sprechen, weil sie offiziell nicht existierte.   Jahre später, als meine eigene Tochter eingeschult wurde, holte mich diese Erfahrung wieder ein. Die Angst, sie könnte dasselbe erleben, war plötzlich präsent. Ich wollte sicherstellen, dass sie weiß: Sie kann immer mit mir sprechen. Denn ich habe gelernt, dass es einen entscheidenden Unterschied macht, ob Rassismus benannt wird – oder ob Betroffene damit allein bleiben.“   SWANS: „Haben Sie die DDR rassistischer als den Westen wahrgenommen?“   Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Die DDR war nicht per se rassistischer als der Westen. Rassismus gibt es überall in Deutschland – er ist kein spezifisch ostdeutsches Problem. Westdeutsche Medien zeichnen oft ein verzerrtes Bild, indem sie den Osten besonders kritisch betrachten, während ähnliche Phänomene im Westen weniger thematisiert werden.   Rechtsextreme Wahlergebnisse in Ostdeutschland werden oft isoliert betrachtet, dabei gibt es auch im Westen Orte mit extrem hohen AfD-Werten. Zudem beeinflussen soziale und historische Faktoren den Umgang mit Rassismus: In der DDR gab es weniger Kontakt zu Migrant:innen, was Vorurteile verstärken konnte, aber westdeutsche Rechtsradikale sind seit der Wende in Ostdeutschland aktiv und haben erheblich zur Problematik beigetragen.   Kurz gesagt: Rassismus ist ein gesamtdeutsches Problem – kein ostdeutsches Alleinstellungsmerkmal.“   SWANS: „Die Medien haben eine große Macht, insbesondere wenn es darum geht, bestimmte Gruppen darzustellen. Oft wird in den Nachrichten ein negatives Bild von muslimischen oder religiösen Gemeinschaften gezeichnet. Wie kommt es dazu und wie sollte man damit umgehen?“   Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Um zu verstehen, wie es dazu kommt, müssen wir uns die Funktion von negativen Bildern von Gruppen, also von Stereotypen, anschauen. Wir alle sind von Vorurteilen und Stereotypen geprägt, die wir über Jahre hinweg internalisieren, selbst wenn wir wissen, dass diese eigentlich nichtzutreffend sind. Selbst wenn jemand Rassismus oder Chauvinismus erfahren hat, bedeutet das nicht, dass diese Person nicht auch rassistische oder diskriminierende Haltungen gegenüber anderen entwickeln kann. Auch

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Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Ich bin stolz, eine Schwarze Frau zu sein, und lasse mir diesen Stolz nicht nehmen.“ 

Prof. Dr. Abiola Sarnecki ist Professorin für Organisation und Personal an der Wiesbaden Business School der Hochschule RheinMain (HSRM). Zudem ist sie Diversitäts- und Antidiskriminierungsbeauftragte der HSRM und Gastprofessorin an der Toulouse School of Management in Frankreich. Für die wissenschaftliche Karriere hatte sie sich nach 15 Jahren als Unternehmensberaterin entschieden und dafür an der EBS-Universität für Wirtschaft und Recht in Organizational Behavior promoviert. Sie hat einen Master in Electronic Engineering vom Kings‘ College in London (UK), einen MBA vom Imperial College London (UK) und einen Bachelor in Electrical and Electronic Engineering von der Universität Lagos (Nigeria). Das Gespräch führte Zekiye Tolu. SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Glücklich und geborgen. Meine Eltern waren beide Professoren an der Universität Lagos (Nigeria) und wir haben, zusammen mit meinen zwei Schwestern und meinen Bruder, auf dem Campus gelebt. Der erweiterte Familienkreis mit Großeltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen war auch sehr wichtig für uns. Ich habe viele schöne Erinnerungen an meine Kindheit.“ SWANS: „Gab es Vorbilder, die Sie früh geprägt haben und einen positiven Einfluss auf Sie hatten?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Meine Mutter und meine Großmutter haben mir gezeigt, dass Frauen stark, selbstständig und beruflich erfolgreich sein können. Mein Vater war eine starke Persönlichkeit und hat uns nicht dominiert, sondern immer unterstützt. Durch meine Eltern habe ich Werte wie Empathie, Integrität und Selbstbewusstsein gelernt.“ SWANS: „Wie sind Sie zum heutigen Beruf gekommen?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Nach über 15 Jahren in der Unternehmensberatung und im Personalwesen gelangte ich nach intensiver Selbstreflexion zu der Erkenntnis, dass ich bereit für eine neue Herausforderung war – auch wenn mir zunächst nicht genau klar war, in welche Richtung ich mich entwickeln wollte. In einem Gespräch mit einem Freund, der heute mein Mentor ist, teilte ich ihm mit, dass ich mit dem Gedanken spielte, zu promovieren, mir jedoch unsicher war, ob ich die erforderliche Zeit und Ressourcen dafür aufbringen konnte oder wollte. Er lud mich daraufhin zu einem Forschungsworkshop ein. Die Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Forschung faszinierte mich so sehr, dass ich mich entschied, meine damalige Stelle zu kündigen und die Promotion zu beginnen. Nach Abschluss meiner Promotion entschied ich mich bewusst für eine akademische Laufbahn. Im Jahr 2021 erhielt ich schließlich meine Berufung zur Professorin.“ SWANS: „Hatten Sie Vorbilder, die Sie auf Ihrem Weg zu Ihrer Berufslaufbahn inspiriert haben?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Ja, mehrere. Meine Eltern, eine ehemalige Chefin und meine ehemaligen Betreuer:innen aus meiner Promotion. “ SWANS: „Haben Sie Rassismus erfahren? Wenn ja, wie sind Sie damit umgegangen?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Ja, solche Erfahrungen mache ich immer wieder – oft subtil, aber dennoch spürbar. Ein Beispiel ist, wenn ich mit meiner Assistentin eine Konferenz besuche und häufig selbst für die Assistentin gehalten werde. Oder am Flughafen, wenn ich als einzige Passagierin direkt nach dem Aussteigen für eine Passkontrolle ausgewählt werde. Wie ich damit umgehe? Ich bin stolz darauf, eine Schwarze Frau zu sein, und lasse mir diesen Stolz von niemandem nehmen. Wenn ich der Meinung bin, dass es etwas an der Situation ändern kann, spreche ich es an. Und wenn es erforderlich ist, scheue ich mich nicht, die Angelegenheit weiter zu eskalieren.“ SWANS: „Warum brauchen wir aus Ihrer Sicht Vielfalt und Menschen mit Einwanderungsgeschichte in der Berufswelt?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Vielfalt – sei es in Bezug auf Geschlecht, ethnischen Hintergrund, sozioökonomischen Status, sexuelle Orientierung, Behinderung oder Neurodiversität – spielt eine entscheidende Rolle in der Arbeitswelt. Die unterschiedlichen Perspektiven, die sie mit sich bringt, fördern die Unternehmensleistung, indem sie zu innovativeren Produkten, kreativeren Entscheidungsprozessen und einer höheren Arbeitszufriedenheit beitragen. * Allerdings reicht Vielfalt allein nicht aus, um nachhaltige positive Effekte zu erzielen. Ebenso entscheidend ist ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit (Belonging). Dieses beschreibt das Maß, in dem Individuen ihre einzigartigen Eigenschaften einbringen können, ohne dabei das Gefühl zu haben, ausgeschlossen oder nicht vollständig akzeptiert zu werden. Deshalb ist es essenziell, dass Unternehmen eine inklusive Unternehmenskultur fördern, in der Vielfalt nicht nur vorhanden, sondern auch wertgeschätzt und unterstützt wird.“ SWANS: „Welche Inhalte Ihrer Arbeit möchten Sie Student:innen besonders ans Herz legen?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Drei Dinge liegen mir besonders am Herzen: Ethisches Verhalten ist essenziell und sollte die Grundlage jedes Handelns bilden. Vielfalt ist eine Bereicherung und bringt wertvolle Perspektiven mit sich. Unterschiedliche soziale und kulturelle Hintergründe führen zu vielfältigen Sichtweisen. Diese sind in den meisten Fällen weder richtig noch falsch – sie sind einfach verschieden und eröffnen neue Denkansätze.“ SWANS: „Welche Stärken erkennen Sie bei Frauen mit Einwanderungsgeschichte? Welche Besonderheiten bringen sie für die Berufswelt mit?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Resilienz – die Fähigkeit, trotz Rückschlägen und mangelnder Anerkennung kontinuierlich sein Bestes zu geben. Viele Frauen mit Einwanderungsgeschichte wissen, dass sie in gewisser Weise Vorreiterinnen sind. Sie tragen diese Verantwortung bewusst und setzen sich dafür ein, den Weg für zukünftige Generationen zu ebnen.“ SWANS: „Was ist für ein gelungenes Leadership für Frauen entscheidend?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Authentisch bleiben, die eigene Neugier bewahren und kontinuierlich in die persönliche Entwicklung investieren. Für die eigenen Ideen werben, andere unterstützen und als Mentorin eine inspirierende Rolle übernehmen.“ SWANS: „Wir leben aktuell in sehr bewegenden Zeiten. Wie gehen Sie mit diesen Ereignissen um?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Ich versuche, mich mental zu schützen und solche Erfahrungen nicht persönlich an mich heranzulassen. Als Diversitätsbeauftragte der Hochschule setze ich mich aktiv dafür ein, das Bewusstsein für Vielfalt und Antidiskriminierung zu schärfen. Mein Ziel ist es, ein inklusives Umfeld zu fördern und Hochschulangehörige zu unterstützen – sowohl diejenigen, die selbst Diskriminierung erfahren haben, als auch jene, die sie beobachtet haben.“ SWANS: „Auf welche gemeisterte Hürde sind Sie besonders stolz und wie haben Sie diese überwunden?“ Prof. Dr. Abiola Sarnecki: „Nach 15 Jahren Berufserfahrung und einer längeren Auszeit, in der ich meine Kinder großgezogen habe, kehrte ich als Studentin an die Universität zurück, um meine Promotion zu beginnen. Diese Zeit war äußerst herausfordernd, doch ich habe meine Promotion mit summa cum laude – der bestmöglichen Note – abgeschlossen. Darauf bin ich sehr stolz. Trotz Rückschlägen habe ich nie aufgegeben. Selbst in Momenten,

Vorbilder

Anja Gabriel: „Politik ist der Bereich mit der größten Geschlechterungleichheit.“   

Anja Gabriel ist internationale Expertin für digitale Diplomatie und strategische politische Kommunikation und berät internationale Organisationen, politische Institutionen und Politiker:innen bei der Entwicklung und Optimierung digitaler Strategien. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der EU-Kommunikation: Von 2019 bis Anfang 2024 beriet sie zunächst EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und anschließend den ehemaligen EU-Ratspräsidenten Charles Michel bei der Ausrichtung und Aufbau ihrer digitalen Kommunikation. Von 2016 bis 2018 unterstützte sie die digitale Kampagne der CDU und Bundeskanzlerin a.D. Angela während des Bundestagswahlkampfs 2017. Weitere Stationen absolvierte sie u.a. im Deutschen Bundestag, bei der PR-Agentur Hill & Knowlton, dem United Nations Development Programme (UNDP) in New York sowie bei der Deutschen Botschaft in Washington D.C. Sie studierte Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften in Deutschland und in Australien. Das Gespräch führte Zekiye Tolu.   SWANS: „Wie würdest du deine Kindheit beschreiben? Wie und wo bist du aufgewachsen?“   Anja Gabriel: „Ich bin Ende 1981 in Ahlen geboren, einer mittelgroßen Stadt im westfälischen Münsterland. Meine Eltern sind im Jahr 1976 in jungen Jahren aus der Südost-Türkei nach Deutschland gekommen. Ich bin die Älteste von fünf Geschwistern.   Meine ersten Kindheitserinnerungen sind stark von unserer aramäischen Kultur geprägt. Wir haben als Gemeinschaft in derselben Nachbarschaft gelebt, und unsere kulturellen sowie religiösen Bindungen durch die syrisch-orthodoxe Kirche waren sehr eng.   Besonders prägend war meine Schulzeit bis zum Abitur an einem bischöflichen Gymnasium in meiner Heimatstadt. Zwar habe ich keine großen Vorfälle erlebt, doch die sozialen und äußerlichen Unterschiede wurden mir in diesen Jahren besonders bewusst.   Ich würde sagen, dass ich in einfachen Verhältnissen aufgewachsen bin, aber dennoch eine schöne Kindheit und Jugend hatte. In zwei Kulturen groß zu werden, betrachte ich als etwas Positives und nehme aus beiden Gesellschaften das Beste für mich mit.“   SWANS: „Gab es Vorbilder, die dich früh geprägt haben und einen positiven Einfluss auf dich hatten?“   Anja Gabriel: „Mein größtes Vorbild ist ein familiäres Beispiel: Meine Mutter besitzt eine besondere Stärke, die mich mein Leben lang geprägt hat.   Während meiner Schulzeit war ein bestimmter Deutschlehrer eine große Inspiration für mich. Seine motivierende Art hat mich nachhaltig beeindruckt.   Während meines Studiums und meiner Praktika fehlte es leider an weiblichen Mentorinnen, die mir Wege und Möglichkeiten aufzeigen konnten. Dafür gibt es jedoch einige wenige Politikerinnen, deren Leadership ich sehr schätze.“   SWANS: „Was hat dich dazu bewegt ins Ausland zu gehen und dort zu studieren?“   Anja Gabriel: „Ich bin mit zwei Kulturen und zwei Sprachen aufgewachsen. Ich habe Wurzeln im Nahen Osten, bin aber auch deutsch und europäisch geprägt. Die Liebe und Neugierde für fremde Kulturen und Sprachen war aufgrund meines interkulturellen Backgrounds schon immer vorhanden.   Diese Offenheit spiegelt sich auch in meiner Studienwahl wider: Ich habe Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften studiert und einen sprachlichen Fokus auf Englisch gelegt. Es war für mich daher fast selbstverständlich, ins englischsprachige Ausland zu gehen.   Die Wahl fiel auf Sydney, da ich mit Anfang 20 diesen gesamten Prozess komplett allein durchlaufen wollte. Das war eine sehr gute Erfahrung – sowohl für meine akademische Ausbildung, als auch für meinen persönlichen Werdegang und mein Wachstum.“   SWANS: „Wie bist du zu deinem heutigen Beruf gekommen?“   Anja Gabriel: „Am Ende meines Master-Studiums der Medien- und Kulturwissenschaften waren drei internationale Ereignisse besonders wegweisend: Der Gaza-Krieg 2008/2009, die Proteste im Iran nach der Präsidentschaftswahl 2009 und die Arabellion Anfang der 2010er Jahre. In diesen Jahren geschah medial etwas Spannendes mit dem Aufkommen neuer digitaler Medien wie Twitter. Diese Wechselwirkung fand ich faszinierend, und so widmete ich das Thema meiner Masterarbeit dem Gaza-Konflikt 2008/2009. Dabei untersuchte ich die Rolle sozialer Medien in diesem Krieg.   Das führte mich zu meinem Forschungsprojekt zum Thema ‘Digitale Diplomatie’, das ich in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle und dem Institut für Auslandsbeziehungen durchführte.   So bin ich zu meiner beruflichen Nische gekommen, die sich bis heute, wie ein roter Faden durch meine Laufbahn zieht: Die Schnittstelle zwischen internationaler Politik, digitaler Medien und Technologie.“   SWANS: „Du berätst u.a. Politiker:innen. Warum hast du dich für diese Branche entschieden?“   Anja Gabriel: „Studien zeigen, dass Politik weltweit der Bereich mit der größten Geschlechterungleichheit ist. Frauen sind insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik weiterhin stark unterrepräsentiert. Zudem sind Frauen, die ein politisches Amt oder Mandat ausüben, häufig Hate Speech und Anfeindungen im digitalen Raum ausgesetzt.   Daher ist es mir ein besonderes Anliegen, vor allem Politikerinnen dabei zu unterstützen, hilfreiche Kommunikationsstrategien zu entwickeln, sich gut zu positionieren und Sichtbarkeit für sich und ihre Arbeit zu schaffen.“   SWANS: „Was nimmst du aus deiner Berufserfahrung aus dem Ausland mit? Was können wir in Deutschland von anderen Ländern lernen?“   Anja Gabriel: „Ich habe neben Australien mehrmals Zeit in den USA verbracht und fühle mich bis heute sehr stark mit diesem Land verbunden. Mein erster Aufenthalt in Washington D.C. im Rahmen einer Hospitation war ein echter Augenöffner.   Gerade im Business-Kontext schätze ich das Mindset der Amerikaner:innen, das von Optimismus und Offenheit geprägt ist. In Deutschland haben wir oft die Tendenz, Dinge so zu machen, wie wir sie bislang immer gemacht haben. Das erschwert Veränderung und Innovation.   In den USA herrscht hingegen eine andere Fehlerkultur, geprägt vom ‘Trial-and-Error’-Prinzip. Fehler werden dort als Lernchancen gesehen, während sie in Deutschland häufig als Versagen wahrgenommen werden.   Mehr Mut zur Disruption würde uns helfen, Entwicklungen und Transformationen schneller voranzutreiben. Daher: Weniger analysieren und über Themen debattieren, dafür mehr machen.“   SWANS: „Was hat dich die Politik bisher gelehrt? Was hat dich möglicherweise überrascht oder sogar enttäuscht?“   Anja Gabriel: „Je weiter es in der Politik nach oben geht, desto dünner wird die Luft. Der Politikbetrieb in Deutschland und der EU, wo ich im letzten Jahrzehnt viel Zeit verbracht habe, war für mich eine wertvolle Schule und Vorbereitung.   In diesem Umfeld lernt man, langfristig und strategisch zu denken. Wer etwas verändern möchte, wird schnell erkennen, dass Alleingänge nicht zielführend sind – in der Politik funktioniert Wandel nur durch Allianzen und Kooperationen.   Mit Bezug auf Kommunikation hat sich in dieser Zeit mein Blick für die Macht der Narrative geschärft.“   SWANS: „Ich kann mir vorstellen, dass du in der Politik ein starkes Rückgrat brauchst. Welche Voraussetzungen musst du erfüllen, um dem möglichen Gegenwind standzuhalten?“   Anja

Vorbilder

Dr. Hedda Ofoole Knoll: „Agiert strategisch – wie beim Schach!“

Dr. Hedda Ofoole Knoll ist General Director beim Diversity-Unternehmen Employers For Equality. Zuvor leitete sie als Geschäftsführerin das soziale Jobportal tbd*– The Changer GmbH. Hier erarbeitete sie innovative Formate, insbesondere zu Genderfragen und Anti-Rassismus in der Personalpolitik und arbeitete u.a. mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) zusammen, dem Goethe Institut und der NGO Oxfam. Die ausgebildete Kommunikations- und Verhaltenstrainerin gibt Workshops, u.a. zu Anti-Diskriminierung und „Belonging“ (Zugehörigkeit). Sie berät Unternehmen in Diskriminierungsvorfällen und hält Vorträge und Keynotes. Das Gespräch führte Zekiye Tolu.    SWANS: „Mit welchen Werten bist du aufgewachsen?“  Dr. Hedda Ofoole Knoll: „Ich bin in Deutschland geboren und als Schwarzes Mädchen in Berlin-Kreuzberg aufgewachsen. Dadurch hatte ich eine Community, in der ich mich gut zurechtgefunden habe. Für mich war von Anfang an klar, dass man sich für Gerechtigkeit einsetzen muss. So bin ich aufgewachsen. Durch meine Eltern, die sich für Verbände und Demonstrationen engagierten, habe ich diesen Wert verinnerlicht. Die Bereitschaft, sich für wichtige Themen einzusetzen und einen geschützten Raum zu schaffen, waren Werte, die meinen Eltern besonders am Herzen lagen.“  SWANS: „Gab es Vorbilder, die dich bestärkt haben?“  Dr. Hedda Ofoole Knoll: „Meine Eltern waren meine Vorbilder, wenn es um politisches und soziales Engagement ging. Es waren weniger berühmte Persönlichkeiten oder Koryphäen, die mich inspirierten, sondern vielmehr das Netzwerk, in dem ich gelebt und gewohnt habe.  Für mich war besonders die Art des Zusammenhalts prägend – wie migrantische Personen auf uns Kinder aufgepasst haben, bevor meine Eltern von der Arbeit nach Hause kamen. Das Vorbildliche daran war der Gemeinschaftssinn, der Zusammenhalt und das Gefühl, getragen zu werden. Dieses Netzwerk ist für mich ein Vorbild fürs Leben geworden.“  SWANS: „Wie bist du zu deinem Studium gekommen?“  Dr. Hedda Ofoole Knoll: „Mein Vater ist promovierter Ingenieur an der TU Berlin, und ich habe mir überlegt, wie ich das System aktiv mitgestalten kann. Um mich von meinen Eltern, die auf die Straße gegangen sind und demonstriert haben, abzugrenzen, wollte ich das Wirtschaftssystem von innen heraus beeinflussen.  Durch meine Mutter habe ich erfahren, wie unfair die Strukturen waren, insbesondere in der Arbeitswelt. Meine Mutter konnte das Abitur an der Abendschule nicht abschließen. Da sie kein Abitur vorweisen konnte, wurde sie trotz ihres umfangreichen Wissens und ihrer hervorragenden Arbeit mit Kindern schlechter bezahlt. Diese Ungerechtigkeit wollte ich ändern. Es war für mich klar: Ich möchte in eine Position gelangen, in der ich mitentscheiden und Einfluss auf die Strukturen nehmen kann, um etwas zu verändern. Aus diesem Grund habe ich zunächst den Studiengang Betriebswirtschaftslehre gewählt, der genau dies ermöglicht, und anschließend in Wirtschaftswissenschaften promoviert.“  SWANS: „Was ist aus deiner Sicht wichtig für die Gleichstellungsarbeit?“   Dr. Hedda Ofoole Knoll: „Bei tbd*- The Changer GmbH habe ich mich dafür eingesetzt, dass durch die richtigen Maßnahmen wie Intersektionalität und “Belonging” entsprechende Ansätze in die Jobsuche integriert wurden. Es war mir wichtig, dass sich die Angestellten wohlfühlen und erkennen, dass wir nicht nur Diversität anstreben, weil es gerade im Trend liegt, sondern weil wir uns bereits im Vorfeld intensiv damit auseinandergesetzt und die nötigen Strukturen dafür geschaffen haben.  Diese Art von Maßnahmen habe ich sowohl für unser Team als auch durch Workshop-Formate eingeführt, um andere in diesem Bereich zu schulen. In diesem Zusammenhang habe ich in diesem Sektor den ersten ‚Belonging-Space‘ ins Leben gerufen. Dabei handelte es sich um eine Art geschützten Raum, in den vor allem Input von Expert:innen, mehrheitlich BIPOC (Schwarze Menschen, Indigene und People of Color) und FLINTA (Frauen, Lesben, Intersex, nichtbinär, trans* und agender Personen), einfloss.  In diesem Raum haben sie gelernt, wie sie sich als Expert:innen in der Arbeitswelt schützen, sich methodisch empowern, mit Resilienz umgehen und sich gegenseitig austauschen können. Normalerweise waren sie in ihren Abteilungen häufig allein eingesetzt und auf sich selbst gestellt.“   SWANS: „Was ist aus deiner Sicht die größte Herausforderung einer Führungsposition und was sind deine Erfolgsgeheimnisse?“  Dr. Hedda Ofoole Knoll: „Die größten Herausforderungen für mich liegen in den Bereichen Geld, Kündigungen und Konflikte im Team. In diesen Situationen wünsche ich mir eine andere Herangehensweise, als sie das bestehende System bisher gezeigt hat. Hier fehlt es an Vorbildern, da ich bislang nur wenige Schwarze FLINTA in meiner Position gesehen habe.  Weil ich selbst mehrere Diversitätsdimensionen in mir vereine, viele Herausforderungen erlebt habe und den ‚Belonging-Space‘ auch für mich selbst gebraucht hätte, fällt es mir leicht, diese Themen zu erkennen und sie im Personalbereich einzuführen.“  SWANS: „Wir leben in einer Zeit in Deutschland, in der wir uns spalten. Wie können wir uns weniger spalten lassen und wieder mehr aufeinander zugehen?“  Dr. Hedda Ofoole Knoll: „In mir gibt es zwei innere Stränge, die ich verfolge. Ich bin eine geborene Brückenbauerin, geprägt durch meine Familie und ihre Geschichte. Meine Großeltern waren weiße Menschen aus Deutschland, geprägt vom Krieg und tief verwurzelt in rassistischen Weltbildern. Gleichzeitig haben sie mich geliebt. Dieses Spannungsfeld hat das Brückenbauen zu einem Teil von mir gemacht.  Mein Vater hat ebenfalls eine Brücke gebaut, indem er sagte, dass meine Großeltern, trotz ihrer Perspektive auf mich, immer meine Großeltern bleiben würden. Dieser Gedanke hat mir geholfen, sie zu respektieren – nicht zuletzt, weil ich großen Respekt vor älteren Menschen habe.  Aus dieser persönlichen Erfahrung heraus habe ich ein ganzes Programm an Maßnahmen entwickelt, das sich auf das Brückenbauen konzentriert und dieses Prinzip auch in andere Kontexte überträgt.  In zehn bis zwanzig Jahren werden wir nicht mehr die Minderheit sein. Wenn in Zukunft bestimmte Bereiche im ländlichen Raum austrocknen und beispielsweise keine Schwarzen Pflegekräfte mehr hinfahren oder Ärzt:innen dort tätig werden, wird ein Umdenken oder eine Veränderung unumgänglich sein. Möglicherweise wird es in solchen Situationen auch von rechter Seite ungemütlich werden.  Daher ist es wichtig, dass wir zu Global Playern werden und kurz- sowie mittelfristige Pläne entwickeln, um auf alle möglichen Szenarien vorbereitet zu sein. Du kannst dich finanziell absichern und mit deinem Netzwerk einen Plan B erarbeiten.  Und wenn die Brücke zur Demokratie erfolgreich gebaut wird, ist alles gut. Selbst dann war der Plan B nicht umsonst, denn er könnte der nächsten Generation von großem Nutzen sein.“  SWANS: „Was würdest du gerne in Unternehmen oder in der

Vorbilder

Selmin Çalışkan: „Walk your talk.“

Selmin H. Çalışkan arbeitet als Strategie-Beraterin und Executive Coach in Berlin, berät Führende in herausfordernden Situationen und unterstützt diese bei der Organisations- und Strategieentwicklung, der Positionierung, dem Fundraising und der internationalen Vernetzung. Zuletzt war sie Direktorin im Berliner Büro der Open Society Foundations und zuvor Generalsekretärin bei Amnesty International Deutschland. Sie setzt sich seit ihrer Jugend in Deutschland und international, für die Rechte von Frauen, Minderheiten und von (Kriegs-)Gewalt betroffenen Menschen ein. Sie engagiert sich hauptberuflich und ehrenamtlich als intersektionelle Feministin, Anti-Faschistin und Menschenrechtsexpertin für Demokratie, Frieden und Menschenrechte.    SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“  Selmin Çalışkan: „Ich bin in sehr einfachen Verhältnissen und in zwei Familien aufgewachsen – in meiner türkischen Gastarbeiterfamilie und in einer deutschen Bäckersfamilie der Kriegsgeneration. Sie waren unsere Vermieter, und ich konnte über den Garten unkompliziert zwischen den Familien und Welten wechseln. Bis zu meinem siebten Lebensjahr hatte ich dadurch beides: Türkisch und deutsch, muslimisch und christlich, das Gefühl, einer Minderheit anzugehören, und gleichzeitig stundenweise der Mehrheitsgesellschaft.  Durch die Weltoffenheit meines Vaters hatten wir viele Familienfreundschaften mit deutschen, jugoslawischen, griechischen und anderen türkischen Familien. Danach zogen wir weg, und ich war mehr in der türkischen Community. Ich habe viel gelesen, um mich aus meinem Leben, das ich als beengend empfand, ‚wegzubeamen‘. Später kamen Leistungsvolleyball und gesellschaftspolitische Aktivitäten hinzu.  Als eines der wenigen migrantischen Kinder in Düren konnte ich das Gymnasium besuchen – und das auch nur, weil ich mich gegen den Willen meiner Lehrerin und ohne die Unterstützung meiner Eltern selbst angemeldet hatte. Ich war immer in mehreren Welten und Sprachen unterwegs: Tagsüber mit deutschen, weißen Mittelschichtsjugendlichen, Nazilehrern (und ein paar griechischen Freundinnen) und glücklicherweise auch mit Lehrer:innen der berühmten 68er-Generation. Nachmittags dann im muttersprachlichen Unterricht mit türkischen Jugendlichen, die aufgrund des strukturellen Rassismus kaum Aussichten auf Lehrstellen oder höhere Bildung hatten.  Diese Jugendlichen waren oft lebensklüger, lustiger, erwachsener und mutiger als die Gymnasiast:innen. Für mich war Deutschland von Geburt an ein Multikulti-Land – lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Ich habe es sehr genossen, in unterschiedlichsten Welten zu sein – mal in der einen auf-, und in der anderen abzutauchen. Diese Welten sind bis heute fest in mich eingewoben.“   SWANS: „Gab es Vorbilder, die Sie für Ihren Karriereweg positiv beeinflusst haben?“   Selmin Çalışkan: „Es gab vier Frauen, die mich als Kind geprägt haben:  Meine Mutter, die uns Töchtern immer einschärfte: ‚Tochter, du darfst dich niemals von einem Mann abhängig machen. Schaff dir ein eigenes Bankkonto mit eigenem Geld aus eigener Arbeit.‘ Sie verwaltete unser Familiengeld und organisierte uns finanziell.  Die deutsche Bäckerin, die den Lebensmittelladen führte, immer picobello aussah, die Buchhaltung machte und am Steuer ihres Peugeots saß, wenn wir einen Ausflug machten. Auch sie war die Finanzchefin ihrer Familie.  Meine Cousine in Ankara, die bei einer Bank arbeitete, lange nicht heiraten wollte, allein wohnte und in den Urlaub fuhr – ein Ding der Unmöglichkeit in den 1970ern. Sie ging zum Taekwondo-Training, hatte lange schwarze Haare, eine eloquente Art und eine geheimnisvolle Ausstrahlung. Sie wirkte auf mich wie die türkische Filmschauspielerin und Feministin Türkan Şoray.  Meine Deutschlehrerin auf dem Gymnasium, die mit uns in der fünften Klasse Texte aus dem Nationalsozialismus las, ihre Türkei-Reise als Diashow präsentierte (eine ganz andere Türkei, als ich sie kannte) und Feministin der 1968er-Generation war. Sie inspirierte mich, was den Modestil angeht – seit damals liebe ich es, Kleider zu tragen.“  SWANS: „Woher kommt Ihr Gerechtigkeitssinn? Warum engagieren Sie sich für Menschenrechte?“  Selmin Çalışkan: „In meiner Kindheit und Jugend habe ich, trotz viel Wohlwollens, oft erlebt, dass wir als ‚die Anderen‘ angesehen und behandelt wurden. Es gab hässliche Szenen: Menschen beschimpften uns an der Supermarktkasse, und mein Vater wurde grundlos auf der Straße kontrolliert, als wäre er ein Krimineller. Das hat uns Kinder sehr beschämt.  Wir lebten in Wohnungen ohne Bad, mit Öfen und Außenklos. Unsere Eltern arbeiteten für niedrigere Löhne als Deutsche mit der gleichen Tätigkeit. Meine türkischen Freund:innen hatten kaum Chancen auf Lehrstellen oder höhere Bildung. Gleichzeitig bemerkte ich mit etwa sieben Jahren, dass ich als Mädchen anders behandelt wurde – irgendwie minderwertiger, sowohl in der Türkei, als auch in Deutschland. Das hat mich sehr geärgert und motiviert, anderen jungen Frauen zu helfen, sich zu wehren.   Diese Ungerechtigkeiten haben meinen Wunsch bestärkt, mich für Menschenrechte einzusetzen.“  SWANS: „Wie schaffen Sie den Spagat einer privilegierten Gesellschaft in Deutschland und anderen Ländern, in denen die Menschen weniger Rechte haben?“  Selmin Çalışkan: „Durch Solidarität und Empathie mit Menschen, die von bewaffneten Konflikten, Armut, Entrechtung, Folter, häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen sind. Ohne Empathie gibt es keine Solidarität, denn nur wer auch Schmerzhaftes an sich heranlässt und mit anderen mitfühlen kann, kann in die Aktion gehen, um Veränderungen zu bewirken.  Es war mir immer besonders wichtig, jene Menschen aus Deutschland und der Europäischen Union heraus zu unterstützen, die sich vor Ort für die Rechte und politische Teilhabe anderer einsetzen. Diese Menschen stammen aus den betroffenen Ländern, kennen sich dort aus und haben eine eigene Vision für ihr Land. Meistens stehen sie im Visier ihrer Regierungen und anderer, oft bewaffneter Gruppen und benötigen deshalb internationalen Schutz – von den Vereinten Nationen oder NGOs, die sicherstellen, dass Menschen individuell geschützt und solche Fälle rechtlich betreut werden. Ein Beispiel hierfür ist der Sonderberichterstatter für Menschenrechtsverteidiger:innen der UN. Der Schutz und die Zusammenarbeit mit Menschenrechtsverteidiger:innen aus dem Kongo, Bosnien, Afghanistan, Mali, Ägypten, Mexiko, der Türkei, Indien oder Italien waren mir stets ein Herzensanliegen, vor allem der Schutz von Frauen unter ihnen.  Aber wir brauchen gar nicht so weit zu blicken: Auch in Deutschland ist ein solcher Spagat nötig. Es gibt hier viele Menschen, die weniger Rechte haben und großes Leid erfahren haben, zum Beispiel diejenigen, die ihre Liebsten durch rechtsextremistische Terroranschläge des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) verloren haben. Sie erleben bis heute kaum Gerechtigkeit oder Anerkennung. Ein weiteres Beispiel ist die pro-demokratische Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Sie benötigt dringend Fördergelder und strategische Allianzen, um dem Belagerungszustand durch rechtsmotivierte Akteur:innen standzuhalten. Gemeinsam, mit uns allen, muss es gelingen, diesen Zustand zu durchbrechen.  Grundsätzlich müssen in Zukunft mehr Beteiligungsformate geschaffen werden, die

Vorbilder

Sarah Blaßkiewitz: „Die Hürden kommen meist unerwartet.”

Sarah Blaßkiewitz ist Regisseurin, Drehbuchautorin und ehemalige Schauspielerin. Ihr erster Langfilm IVIE WIE IVIE wurde u. a. beim Festival des deutschen Films als Bester Film ausgezeichnet und erhielt den Gilde Filmpreis der Programmkinos 2021. Sie inszenierte 2021 vier Folgen der WebserieDRUCK und 2022 die Serie “SAM – EIN SACHSE” von Disney+, für die sie mit dem Grimme-Preis 2024 ausgezeichnet wurde. Aktuell läuft die Comedy-Serie “OH HELL” auf Magenta TV und als Max (HBO)-Original in den USA, bei der Sarah Blaßkiewitz die gesamte 2. Staffel inszeniert hat. Sie studierte Film an der Beuth Hochschule Berlin und arbeitete im Regie- und Kameradepartment bei Filmproduktionen. SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“  Sarah Blaßkiewitz: “Ich beschreibe meine Kindheit als kreativ und glücklich. Ich hatte von meiner Mama, als auch der Familie, eigentlich alle Freiheiten- bis auf das Rauchen, Alkohol, und all das, was man als Kind nicht machen sollte. Von daher war ich froh, dass ich mich so frei entfalten konnte.”  SWANS: „Gab es Vorbilder, die Sie in Ihrer Kindheit und Jugend gestärkt haben?“  Sarah Blaßkiewitz: “Ja, meine Vorbilder waren unter anderem die deutsche Band Tic Tac Toe, die britische Girlband Spice Girls und der TV-Detektiv Columbo.”  SWANS: „Haben Sie Rassismus erlebt und wie sind Sie damit umgegangen?“  Sarah Blaßkiewitz: “Da Rassismus viele Facetten hat und auch oft versteckt daherkommt, musste ich im Laufe meines Lebens Jahr für Jahr neu lernen, damit umzugehen. Ich habe mittlerweile erkannt, dass ich nicht länger damit umgehen möchte. Wenn ich beispielsweise verbal angegriffen werde, bleibt mir oft die Sprache weg. Die Verletzungen, die ich erlitten habe, stammen häufig aus früheren negativen Erfahrungen und werden durch neue Beleidigungen nur verstärkt. Warum sollte ich mich als Opfer verteidigen? Warum sollte ich versuchen, damit ‚umzugehen’? Meiner Meinung nach muss die gesamte Gesellschaft besser mit solchen Situationen umgehen, damit Betroffene wie ich nicht mehr damit konfrontiert werden. Wenn jemand geschlagen wird, bedeutet das nicht, dass die Lösung darin besteht, zurückzuschlagen. Die Person, die rassistisch beleidigt wird, verdient Schutz und Verteidigung! Viele meiner Freunde wurden auf offener Straße von Nazis angespuckt. Wie soll diese Freundin oder dieser Freund anders reagieren, als sich schnell in Sicherheit zu bringen? Nach dem Spucken könnte bereits ein Tritt oder Schlag folgen. Ich denke, die Frage nach dem Umgang ist in diesem Kontext nicht ganz passend. Wenn es Lösungen oder Ideen gibt, die mir helfen könnten, besser mit Rassismus umzugehen, bin ich offen dafür. Aber wie ich zu Beginn sagte, bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich nicht mehr mit Menschenverachtung, Rassismus und Hass reagieren möchte.”  SWANS: „Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen?“ Sarah Blaßkiewitz: “Ich habe schon früh im Kinder- und Jugendtheater mitgespielt. Anschließend konnte ich in einer Jugendserie mitspielen. Schließlich habe ich irgendwann begriffen, dass ich lieber hinter der Kamera stehe und anderen dabei zuschaue, wie sie spielen. Ich arbeite nur noch in absoluten Ausnahmen vor der Kamera, weil ich mich auf der anderen Seite viel wohler fühle. Ich habe den Beruf der Filmemacherin gewählt, weil ich mir nichts Anderes für mich vorstellen konnte und bis heute nicht kann.”  SWANS: „Was wünschen Sie sich zukünftig für die Film- und Produktionsbranche?“  Sarah Blaßkiewitz: “Ich wünsche mir von der Branche mehr Geld und Zeit, aber vor allem ein ehrlicheres Miteinander. Es sollte mehr Ausgewogenheit zwischen den Bereichen Streamern, TV und Kino vorhanden sein. Die Kinoproduktion hat es gerade in der Finanzierung sehr schwer.”  SWANS: „Wodurch lassen Sie sich für Ihre Drehbücher inspirieren?“  Sarah Blaßkiewitz: “Meine Inspirationsquellen für gute Drehbücher sind Menschen, Kunst und gute journalistische Arbeit.”  SWANS: „Auf welche gemeisterten Hürden in Ihrem bisherigen Leben sind Sie besonders stolz?“  Sarah Blaßkiewitz: “Ich bin stolz darauf, dass ich weiter mache, trotz Hürden! Die Hürden kommen meist unerwartet und können einen schwer treffen. Da kann es schon mal hart sein, sich selbst wieder zu motivieren und aus der Krise herauszukommen. Das funktioniert am besten mit Freund:innen und Familie, die einem zur Seite stehen.”  SWANS: „Was empfehlen Sie einer jungen Frau mit Einwanderungsgeschichte, die Schauspielerin werden will? Welche Schritte schlagen Sie vor?“  Sarah Blaßkiewitz: “Ich würde ein Handy nehmen und dich von einer Freund:in wie du eine Szene spielst, oder einen Monolog sprichst, abfilmen lassen. Gehe ins Theater, lies Texte, schau dir Filme an. Probiere dich aus und sauge alles auf, was nur möglich ist. Danach brauchst du jemanden, der dir eine gute Mentorin oder Mentor ist. Das ist im besten Fall auch eine Schauspielerin oder eine Person, die dich anderen auch vorschlagen kann. Lerne parallel immer auch Deutsch und Englisch, weil alles in deinem Job über Sprache laufen wird.” SWANS: „Was möchten Sie abschließend unserer Community gerne mitgeben?“  Sarah Blaßkiewitz: “Wir sollten uns als Frauen auf der Karriereleiter nicht einschüchtern lassen. Der Weg für uns ist steiniger als für Männer, aber wir haben die doppelte und dreifache Kraft dazu! Man muss nur rechtzeitig erkennen, wer einem gut tut und wer einen aufhält, sein Ziel zu verfolgen.”  SWANS: „Vielen Dank für das Gespräch!“

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