Anja Gabriel: „Politik ist der Bereich mit der größten Geschlechterungleichheit.“   

Anja Gabriel ist internationale Expertin für digitale Diplomatie und strategische politische Kommunikation und berät internationale Organisationen, politische Institutionen und Politiker:innen bei der Entwicklung und Optimierung digitaler Strategien. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der EU-Kommunikation: Von 2019 bis Anfang 2024 beriet sie zunächst EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und anschließend den ehemaligen EU-Ratspräsidenten Charles Michel bei der Ausrichtung und Aufbau ihrer digitalen Kommunikation. Von 2016 bis 2018 unterstützte sie die digitale Kampagne der CDU und Bundeskanzlerin a.D. Angela während des Bundestagswahlkampfs 2017. Weitere Stationen absolvierte sie u.a. im Deutschen Bundestag, bei der PR-Agentur Hill & Knowlton, dem United Nations Development Programme (UNDP) in New York sowie bei der Deutschen Botschaft in Washington D.C. Sie studierte Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften in Deutschland und in Australien. Das Gespräch führte Zekiye Tolu. 

SWANS: „Wie würdest du deine Kindheit beschreiben? Wie und wo bist du aufgewachsen?“ 

Anja Gabriel: „Ich bin Ende 1981 in Ahlen geboren, einer mittelgroßen Stadt im westfälischen Münsterland. Meine Eltern sind im Jahr 1976 in jungen Jahren aus der Südost-Türkei nach Deutschland gekommen. Ich bin die Älteste von fünf Geschwistern.  

Meine ersten Kindheitserinnerungen sind stark von unserer aramäischen Kultur geprägt. Wir haben als Gemeinschaft in derselben Nachbarschaft gelebt, und unsere kulturellen sowie religiösen Bindungen durch die syrisch-orthodoxe Kirche waren sehr eng.  

Besonders prägend war meine Schulzeit bis zum Abitur an einem bischöflichen Gymnasium in meiner Heimatstadt. Zwar habe ich keine großen Vorfälle erlebt, doch die sozialen und äußerlichen Unterschiede wurden mir in diesen Jahren besonders bewusst.  

Ich würde sagen, dass ich in einfachen Verhältnissen aufgewachsen bin, aber dennoch eine schöne Kindheit und Jugend hatte. In zwei Kulturen groß zu werden, betrachte ich als etwas Positives und nehme aus beiden Gesellschaften das Beste für mich mit.“  

SWANS: „Gab es Vorbilder, die dich früh geprägt haben und einen positiven Einfluss auf dich hatten?“ 

Anja Gabriel: „Mein größtes Vorbild ist ein familiäres Beispiel: Meine Mutter besitzt eine besondere Stärke, die mich mein Leben lang geprägt hat.  

Während meiner Schulzeit war ein bestimmter Deutschlehrer eine große Inspiration für mich. Seine motivierende Art hat mich nachhaltig beeindruckt.  

Während meines Studiums und meiner Praktika fehlte es leider an weiblichen Mentorinnen, die mir Wege und Möglichkeiten aufzeigen konnten. Dafür gibt es jedoch einige wenige Politikerinnen, deren Leadership ich sehr schätze.“  

SWANS: „Was hat dich dazu bewegt ins Ausland zu gehen und dort zu studieren?“ 

Anja Gabriel: „Ich bin mit zwei Kulturen und zwei Sprachen aufgewachsen. Ich habe Wurzeln im Nahen Osten, bin aber auch deutsch und europäisch geprägt. Die Liebe und Neugierde für fremde Kulturen und Sprachen war aufgrund meines interkulturellen Backgrounds schon immer vorhanden.  

Diese Offenheit spiegelt sich auch in meiner Studienwahl wider: Ich habe Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften studiert und einen sprachlichen Fokus auf Englisch gelegt. Es war für mich daher fast selbstverständlich, ins englischsprachige Ausland zu gehen.  

Die Wahl fiel auf Sydney, da ich mit Anfang 20 diesen gesamten Prozess komplett allein durchlaufen wollte. Das war eine sehr gute Erfahrung – sowohl für meine akademische Ausbildung, als auch für meinen persönlichen Werdegang und mein Wachstum.“  

SWANS: „Wie bist du zu deinem heutigen Beruf gekommen?“ 

Anja Gabriel: „Am Ende meines Master-Studiums der Medien- und Kulturwissenschaften waren drei internationale Ereignisse besonders wegweisend: Der Gaza-Krieg 2008/2009, die Proteste im Iran nach der Präsidentschaftswahl 2009 und die Arabellion Anfang der 2010er Jahre. In diesen Jahren geschah medial etwas Spannendes mit dem Aufkommen neuer digitaler Medien wie Twitter. Diese Wechselwirkung fand ich faszinierend, und so widmete ich das Thema meiner Masterarbeit dem Gaza-Konflikt 2008/2009. Dabei untersuchte ich die Rolle sozialer Medien in diesem Krieg.  

Das führte mich zu meinem Forschungsprojekt zum Thema ‘Digitale Diplomatie’, das ich in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle und dem Institut für Auslandsbeziehungen durchführte.  

So bin ich zu meiner beruflichen Nische gekommen, die sich bis heute, wie ein roter Faden durch meine Laufbahn zieht: Die Schnittstelle zwischen internationaler Politik, digitaler Medien und Technologie.“  

SWANS: „Du berätst u.a. Politiker:innen. Warum hast du dich für diese Branche entschieden?“ 

Anja Gabriel: „Studien zeigen, dass Politik weltweit der Bereich mit der größten Geschlechterungleichheit ist. Frauen sind insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik weiterhin stark unterrepräsentiert. Zudem sind Frauen, die ein politisches Amt oder Mandat ausüben, häufig Hate Speech und Anfeindungen im digitalen Raum ausgesetzt.  

Daher ist es mir ein besonderes Anliegen, vor allem Politikerinnen dabei zu unterstützen, hilfreiche Kommunikationsstrategien zu entwickeln, sich gut zu positionieren und Sichtbarkeit für sich und ihre Arbeit zu schaffen.“  

SWANS: „Was nimmst du aus deiner Berufserfahrung aus dem Ausland mit? Was können wir in Deutschland von anderen Ländern lernen?“ 

Anja Gabriel: „Ich habe neben Australien mehrmals Zeit in den USA verbracht und fühle mich bis heute sehr stark mit diesem Land verbunden. Mein erster Aufenthalt in Washington D.C. im Rahmen einer Hospitation war ein echter Augenöffner.  

Gerade im Business-Kontext schätze ich das Mindset der Amerikaner:innen, das von Optimismus und Offenheit geprägt ist. In Deutschland haben wir oft die Tendenz, Dinge so zu machen, wie wir sie bislang immer gemacht haben. Das erschwert Veränderung und Innovation.  

In den USA herrscht hingegen eine andere Fehlerkultur, geprägt vom ‘Trial-and-Error’-Prinzip. Fehler werden dort als Lernchancen gesehen, während sie in Deutschland häufig als Versagen wahrgenommen werden.  

Mehr Mut zur Disruption würde uns helfen, Entwicklungen und Transformationen schneller voranzutreiben. Daher: Weniger analysieren und über Themen debattieren, dafür mehr machen.“  

SWANS: „Was hat dich die Politik bisher gelehrt? Was hat dich möglicherweise überrascht oder sogar enttäuscht?“ 

Anja Gabriel: „Je weiter es in der Politik nach oben geht, desto dünner wird die Luft. Der Politikbetrieb in Deutschland und der EU, wo ich im letzten Jahrzehnt viel Zeit verbracht habe, war für mich eine wertvolle Schule und Vorbereitung.  

In diesem Umfeld lernt man, langfristig und strategisch zu denken. Wer etwas verändern möchte, wird schnell erkennen, dass Alleingänge nicht zielführend sind – in der Politik funktioniert Wandel nur durch Allianzen und Kooperationen.  

Mit Bezug auf Kommunikation hat sich in dieser Zeit mein Blick für die Macht der Narrative geschärft.“  

SWANS: „Ich kann mir vorstellen, dass du in der Politik ein starkes Rückgrat brauchst. Welche Voraussetzungen musst du erfüllen, um dem möglichen Gegenwind standzuhalten?“ 

Anja Gabriel: „Politik ist in der Tat ein hartes Geschäft. Es ist hilfreich, ein dickes Fell zu entwickeln. Zudem hilft es, wenn man eine gewisse Ausdauer, Überzeugungsstärke und eine schnelle Auffassungsgabe mitbringt, um sich auch in neue Themen schnell einzuarbeiten. Alles andere kann man meiner Meinung nach lernen – denn Politik ist kein Sprint, sondern ein Marathon.  

Resilienz, strategisches Netzwerken sowie Kommunikations- und Medienkompetenz sind dabei entscheidend. Menschen mit Einwanderungsgeschichte bringen oft genau diese Resilienz mit. Sie können gut mit hohen Stresslevels umgehen und Kritik oder Rückschläge bewältigen. Das ist eine echte Superkraft, die in der Politik von großem Vorteil ist.“  

SWANS: „Wir leben aktuell in sehr bewegenden Zeiten. Wie gehst du mit diesen Ereignissen um und wie bleibst du im Vertrauen?“ 

Anja Gabriel: „Ich bin ein absoluter News-Nerd. Mein Tag beginnt und endet mit politischen Nachrichten. Für meinen Beruf ist es essenziell, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben, um politische Entwicklungen und Entscheidungen zu interpretieren. Gleichzeitig kann ich gut nachvollziehen, warum viele Menschen bewusst Abstand von Nachrichten nehmen oder sich digitale Pausen gönnen.  

Wie Winston Churchill einmal sagte: ‘Never let a good crisis go to waste.’ In jeder Krise steckt auch eine Chance. Genau das macht meine Arbeit nicht nur herausfordernd, sondern auch spannend. Ich unterstütze Organisationen und Einzelpersonen dabei, solche Phasen zumindest kommunikativ gut zu meistern und konstruktive Lösungen zu finden.“  

SWANS: „Du engagierst dich freiwillig für deine Herkunftsgesellschaft, sofern es die Zeit erlaubt. Was ist deine Motivation dahinter?“ 

Anja Gabriel: „Aramäer existieren heute fast nur noch als Diasporagemeinschaft. Wir sind weltweit verstreut und in unserer Herkunftsregion aufgrund von Kriegen, Konflikten sowie politischer und religiöser Verfolgung kaum noch vertreten.  

Dieser Umstand führt dazu, dass unsere Kultur, Traditionen und Sprache zunehmend zurückgedrängt werden. Gegenwärtige Konflikte und Kriege, wie in Syrien oder die aktuelle Situation in Israel und Gaza, führen uns Aramäern erneut vor Augen, wie wichtig es ist, sich zu engagieren und auf die Lage unserer Gemeinschaft aufmerksam zu machen. Für mich ist es selbstverständlich, der eigenen Community etwas zurückzugeben. Ich tue dies mit den Mitteln und dem Netzwerk, das mir zur Verfügung steht.“  

SWANS: Welchen Ratschlag würdest du unseren ‘Schwänen’ mitgeben?” 

Anja Gabriel: „Interkulturelle Kompetenz und die Fähigkeit, sich zwischen verschiedenen Welten bewegen zu können, sind in Zeiten geopolitischer Veränderungen eine echte Superkraft. Setzt sie ein.  

Denkt in Netzwerken und sucht euch strategische Verbündete, die gleiche Ziele oder Visionen verfolgen. Ihr müsst das Rad nicht neu erfinden: Sucht euch Mentorinnen, die euch individuell unterstützen, und scheut euch nicht, eure Vorbilder direkt anzusprechen.“  

SWANS: „Vielen Dank für das Gespräch!” 

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