Selmin H. Çalışkan arbeitet als Strategie-Beraterin und Executive Coach in Berlin, berät Führende in herausfordernden Situationen und unterstützt diese bei der Organisations- und Strategieentwicklung, der Positionierung, dem Fundraising und der internationalen Vernetzung. Zuletzt war sie Direktorin im Berliner Büro der Open Society Foundations und zuvor Generalsekretärin bei Amnesty International Deutschland. Sie setzt sich seit ihrer Jugend in Deutschland und international, für die Rechte von Frauen, Minderheiten und von (Kriegs-)Gewalt betroffenen Menschen ein. Sie engagiert sich hauptberuflich und ehrenamtlich als intersektionelle Feministin, Anti-Faschistin und Menschenrechtsexpertin für Demokratie, Frieden und Menschenrechte. SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“ Selmin Çalışkan: „Ich bin in sehr einfachen Verhältnissen und in zwei Familien aufgewachsen – in meiner türkischen Gastarbeiterfamilie und in einer deutschen Bäckersfamilie der Kriegsgeneration. Sie waren unsere Vermieter, und ich konnte über den Garten unkompliziert zwischen den Familien und Welten wechseln. Bis zu meinem siebten Lebensjahr hatte ich dadurch beides: Türkisch und deutsch, muslimisch und christlich, das Gefühl, einer Minderheit anzugehören, und gleichzeitig stundenweise der Mehrheitsgesellschaft. Durch die Weltoffenheit meines Vaters hatten wir viele Familienfreundschaften mit deutschen, jugoslawischen, griechischen und anderen türkischen Familien. Danach zogen wir weg, und ich war mehr in der türkischen Community. Ich habe viel gelesen, um mich aus meinem Leben, das ich als beengend empfand, ‚wegzubeamen‘. Später kamen Leistungsvolleyball und gesellschaftspolitische Aktivitäten hinzu. Als eines der wenigen migrantischen Kinder in Düren konnte ich das Gymnasium besuchen – und das auch nur, weil ich mich gegen den Willen meiner Lehrerin und ohne die Unterstützung meiner Eltern selbst angemeldet hatte. Ich war immer in mehreren Welten und Sprachen unterwegs: Tagsüber mit deutschen, weißen Mittelschichtsjugendlichen, Nazilehrern (und ein paar griechischen Freundinnen) und glücklicherweise auch mit Lehrer:innen der berühmten 68er-Generation. Nachmittags dann im muttersprachlichen Unterricht mit türkischen Jugendlichen, die aufgrund des strukturellen Rassismus kaum Aussichten auf Lehrstellen oder höhere Bildung hatten. Diese Jugendlichen waren oft lebensklüger, lustiger, erwachsener und mutiger als die Gymnasiast:innen. Für mich war Deutschland von Geburt an ein Multikulti-Land – lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Ich habe es sehr genossen, in unterschiedlichsten Welten zu sein – mal in der einen auf-, und in der anderen abzutauchen. Diese Welten sind bis heute fest in mich eingewoben.“ SWANS: „Gab es Vorbilder, die Sie für Ihren Karriereweg positiv beeinflusst haben?“ Selmin Çalışkan: „Es gab vier Frauen, die mich als Kind geprägt haben: Meine Mutter, die uns Töchtern immer einschärfte: ‚Tochter, du darfst dich niemals von einem Mann abhängig machen. Schaff dir ein eigenes Bankkonto mit eigenem Geld aus eigener Arbeit.‘ Sie verwaltete unser Familiengeld und organisierte uns finanziell. Die deutsche Bäckerin, die den Lebensmittelladen führte, immer picobello aussah, die Buchhaltung machte und am Steuer ihres Peugeots saß, wenn wir einen Ausflug machten. Auch sie war die Finanzchefin ihrer Familie. Meine Cousine in Ankara, die bei einer Bank arbeitete, lange nicht heiraten wollte, allein wohnte und in den Urlaub fuhr – ein Ding der Unmöglichkeit in den 1970ern. Sie ging zum Taekwondo-Training, hatte lange schwarze Haare, eine eloquente Art und eine geheimnisvolle Ausstrahlung. Sie wirkte auf mich wie die türkische Filmschauspielerin und Feministin Türkan Şoray. Meine Deutschlehrerin auf dem Gymnasium, die mit uns in der fünften Klasse Texte aus dem Nationalsozialismus las, ihre Türkei-Reise als Diashow präsentierte (eine ganz andere Türkei, als ich sie kannte) und Feministin der 1968er-Generation war. Sie inspirierte mich, was den Modestil angeht – seit damals liebe ich es, Kleider zu tragen.“ SWANS: „Woher kommt Ihr Gerechtigkeitssinn? Warum engagieren Sie sich für Menschenrechte?“ Selmin Çalışkan: „In meiner Kindheit und Jugend habe ich, trotz viel Wohlwollens, oft erlebt, dass wir als ‚die Anderen‘ angesehen und behandelt wurden. Es gab hässliche Szenen: Menschen beschimpften uns an der Supermarktkasse, und mein Vater wurde grundlos auf der Straße kontrolliert, als wäre er ein Krimineller. Das hat uns Kinder sehr beschämt. Wir lebten in Wohnungen ohne Bad, mit Öfen und Außenklos. Unsere Eltern arbeiteten für niedrigere Löhne als Deutsche mit der gleichen Tätigkeit. Meine türkischen Freund:innen hatten kaum Chancen auf Lehrstellen oder höhere Bildung. Gleichzeitig bemerkte ich mit etwa sieben Jahren, dass ich als Mädchen anders behandelt wurde – irgendwie minderwertiger, sowohl in der Türkei, als auch in Deutschland. Das hat mich sehr geärgert und motiviert, anderen jungen Frauen zu helfen, sich zu wehren. Diese Ungerechtigkeiten haben meinen Wunsch bestärkt, mich für Menschenrechte einzusetzen.“ SWANS: „Wie schaffen Sie den Spagat einer privilegierten Gesellschaft in Deutschland und anderen Ländern, in denen die Menschen weniger Rechte haben?“ Selmin Çalışkan: „Durch Solidarität und Empathie mit Menschen, die von bewaffneten Konflikten, Armut, Entrechtung, Folter, häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen sind. Ohne Empathie gibt es keine Solidarität, denn nur wer auch Schmerzhaftes an sich heranlässt und mit anderen mitfühlen kann, kann in die Aktion gehen, um Veränderungen zu bewirken. Es war mir immer besonders wichtig, jene Menschen aus Deutschland und der Europäischen Union heraus zu unterstützen, die sich vor Ort für die Rechte und politische Teilhabe anderer einsetzen. Diese Menschen stammen aus den betroffenen Ländern, kennen sich dort aus und haben eine eigene Vision für ihr Land. Meistens stehen sie im Visier ihrer Regierungen und anderer, oft bewaffneter Gruppen und benötigen deshalb internationalen Schutz – von den Vereinten Nationen oder NGOs, die sicherstellen, dass Menschen individuell geschützt und solche Fälle rechtlich betreut werden. Ein Beispiel hierfür ist der Sonderberichterstatter für Menschenrechtsverteidiger:innen der UN. Der Schutz und die Zusammenarbeit mit Menschenrechtsverteidiger:innen aus dem Kongo, Bosnien, Afghanistan, Mali, Ägypten, Mexiko, der Türkei, Indien oder Italien waren mir stets ein Herzensanliegen, vor allem der Schutz von Frauen unter ihnen. Aber wir brauchen gar nicht so weit zu blicken: Auch in Deutschland ist ein solcher Spagat nötig. Es gibt hier viele Menschen, die weniger Rechte haben und großes Leid erfahren haben, zum Beispiel diejenigen, die ihre Liebsten durch rechtsextremistische Terroranschläge des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) verloren haben. Sie erleben bis heute kaum Gerechtigkeit oder Anerkennung. Ein weiteres Beispiel ist die pro-demokratische Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Sie benötigt dringend Fördergelder und strategische Allianzen, um dem Belagerungszustand durch rechtsmotivierte Akteur:innen standzuhalten. Gemeinsam, mit uns allen, muss es gelingen, diesen Zustand zu durchbrechen. Grundsätzlich müssen in Zukunft mehr Beteiligungsformate geschaffen werden, die