Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Ich konnte das Schulgelände nicht betreten, ohne im Mülleimer zu landen.“

Frau Prof. Dr. Riem Spielhaus ist Professorin für Islamwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen und leitet die Abteilung Wissen im Umbruch am Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut in Braunschweig. Sie war postdoc fellow am Center for European Islamic Thought der Universität Kopenhagen (Dänemark) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Islam und Recht in Europa der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin, ihre im Ergon-Verlag publizierte Dissertation zu Islamdebatten und Selbstpositionierungen von Muslim:innen in Deutschland wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2010 ausgezeichnet. Sie studierte Islamwissenschaften und Afrikawissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin. Ihre Publikationen befassen sich mit islamischer Religionspraxis und der Moscheelandschaft in Deutschland, mit der Wissensproduktion zu Islam und Muslim:innen in Europa sowie mit Diversität, Diskriminierung und Bildung. Seit 2016 forscht und publiziert sie vor allem zur Darstellung von Minderheiten und Diskriminierten in Schulbüchern. Das Gespräch führte Zekiye Tolu.  

SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“  

Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Ich bin in der DDR geboren und aufgewachsen – oder besser gesagt: Nicht ich habe das Land verlassen, sondern das Land hat mich verlassen. Meine Familie war schon immer ein bisschen anders. Mein Vater, ein Karikaturist, und meine Mutter, eine Sprachwissenschaftlerin, passten nicht in die klassische Norm. Bei uns gab es kein Abendessen um Punkt 18 Uhr, aber dafür immer Besuch. Unsere Wohnung war ein Ort der Begegnung – für Freund:innen meiner Geschwister, die Trost suchten, für Bekannte meiner Eltern aus aller Welt.  

Die Welt war ohnehin immer präsent in unserer Familie. Mein Vater kam aus Ägypten, meine Mutter kam in Schweden zur Welt, weil ihre Eltern vor den Nazis dorthin geflohen waren. Doch laut Statistik gilt sie nicht als Migrantin, weil sie ja bereits 1946 nach Deutschland gekommen war. Ein Beispiel dafür, wie offizielle Kategorien Migration oft nicht erfassen. Ihre Forschung zu ostafrikanischen Sprachen hat mich geprägt, ebenso wie die Fragen, die mir zu meiner eigenen Herkunft gestellt wurden. Mein Name, meine Familie – all das hat mich neugierig gemacht, so dass ich schließlich Islamwissenschaft und Afrikawissenschaft studierte, um mehr zu verstehen.  

Ironischerweise wusste ich lange kaum etwas über die erste Kindheitsjahre meiner Mutter. Erst als ich etwas mit 40 in Stockholm zu Besuch war, fragte ich sie, wo genau sie in Stockholm lebte – und war überrascht, denn sie in Uppsala aufgewachsen ist. Es war ein Aha-Moment: Was ich über meine Familie wusste, war stark von äußeren Zuschreibungen bestimmt. Die Fragen, die mir immer wieder zu meinem ägyptischen Vater gestellt wurden, hatten meine Aufmerksamkeit gelenkt.  

Heute arbeite ich am Leibniz-Institut für Bildungsmedien in Braunschweig und beschäftige mich genau mit solchen Fragen: Wie prägen Schulbücher unser Bild von Migration, Religion und Identität? Welche Geschichten werden erzählt – und welche nicht? Mein eigener Weg hat mir gezeigt, wie entscheidend es ist, welche Perspektiven sichtbar gemacht werden. Denn sie beeinflussen, ob wir uns als Teil der Gesellschaft wahrnehmen – oder als Ausnahme.“  

SWANS: „Haben Sie Rassismus in der DDR erlebt und wie sind Sie damit umgegangen?“  

Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Ich habe in der DDR-Rassismus erlebt, besonders in der Schule. In der zweiten Klasse hatte ich ein ganz schlechtes Schuljahr. Ich kam regelmäßig zu spät zum Unterricht, weil ich vorher das Schulgelände nicht betreten konnte, ohne dass ich im Mülleimer oder in der Garderobe landete. Meine Lehrerin ignorierte es – oder duldete es bewusst. Erst als meine Mutter davon erfuhr und die Eltern der anderen Kinder anrief, hörte es plötzlich auf. Die Eltern wollten nicht, dass sich ihre Kinder rassistisch und übergriffig verhalten, sprachen mit ihnen und völlig überraschend hörte es damit auf. Rückblickend rätsele ich heute noch: Warum hatte ich nicht früher etwas gesagt?  

Gleichzeitig gab es für mich einen Ort, der vollkommen anders war: Ein Musikensemble, gegründet von der jüdischen Kommunistin Anni Sauer, die vor den Nazis fliehen musste und in der Sowjetunion 18 Jahre lang in einem Gulag lebte. Hier war Vielfalt selbstverständlich –Kinder mit russischen, lateinamerikanischen oder afrikanischen Eltern wurden hier natürlich nicht gehänselt. Wir sangen Lieder in verschiedenen Sprachen, lernten von Künstler:innen aus aller Welt und erlebten eine rassismusfreie Gemeinschaft.  

Die DDR propagierte offiziell Völkerfreundschaft, doch Rassismus existierte. Man konnte aber nicht darüber sprechen, weil er nicht ins sozialistische Selbstbild passte. Es gab kaum Raum, um über Diskriminierung zu sprechen, weil sie offiziell nicht existierte.  

Jahre später, als meine eigene Tochter eingeschult wurde, holte mich diese Erfahrung wieder ein. Die Angst, sie könnte dasselbe erleben, war plötzlich präsent. Ich wollte sicherstellen, dass sie weiß: Sie kann immer mit mir sprechen. Denn ich habe gelernt, dass es einen entscheidenden Unterschied macht, ob Rassismus benannt wird – oder ob Betroffene damit allein bleiben.“  

SWANS: „Haben Sie die DDR rassistischer als den Westen wahrgenommen?“  

Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Die DDR war nicht per se rassistischer als der Westen. Rassismus gibt es überall in Deutschland – er ist kein spezifisch ostdeutsches Problem. Westdeutsche Medien zeichnen oft ein verzerrtes Bild, indem sie den Osten besonders kritisch betrachten, während ähnliche Phänomene im Westen weniger thematisiert werden.  

Rechtsextreme Wahlergebnisse in Ostdeutschland werden oft isoliert betrachtet, dabei gibt es auch im Westen Orte mit extrem hohen AfD-Werten. Zudem beeinflussen soziale und historische Faktoren den Umgang mit Rassismus: In der DDR gab es weniger Kontakt zu Migrant:innen, was Vorurteile verstärken konnte, aber westdeutsche Rechtsradikale sind seit der Wende in Ostdeutschland aktiv und haben erheblich zur Problematik beigetragen.  

Kurz gesagt: Rassismus ist ein gesamtdeutsches Problem – kein ostdeutsches Alleinstellungsmerkmal.“  

SWANS: „Die Medien haben eine große Macht, insbesondere wenn es darum geht, bestimmte Gruppen darzustellen. Oft wird in den Nachrichten ein negatives Bild von muslimischen oder religiösen Gemeinschaften gezeichnet. Wie kommt es dazu und wie sollte man damit umgehen?“  

Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Um zu verstehen, wie es dazu kommt, müssen wir uns die Funktion von negativen Bildern von Gruppen, also von Stereotypen, anschauen. Wir alle sind von Vorurteilen und Stereotypen geprägt, die wir über Jahre hinweg internalisieren, selbst wenn wir wissen, dass diese eigentlich nichtzutreffend sind. Selbst wenn jemand Rassismus oder Chauvinismus erfahren hat, bedeutet das nicht, dass diese Person nicht auch rassistische oder diskriminierende Haltungen gegenüber anderen entwickeln kann. Auch Menschen mit Migrationshintergrund können Vorurteile gegenüber anderen, wie zum Beispiel Ostdeutschen, haben. 

Obwohl das Grundgesetz Gleichberechtigung fordert, lernen wir im Laufe unseres Lebens oft das Gegenteil – nämlich, wie wir für unsere Entscheidungen unbewusst Stereotype nutzen. Gerade schnelle, unbewusste Entscheidungsfindungen funktionieren auf der Basis von Vor-Urteilen z.B. anhand von Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft oder Alter.  

Wenn wir das überwinden wollen, müssen wir uns dieser Mechanismen bewusst werden und reflektieren, wie wir selbst in bestimmten Momenten agieren und warum. Wir müssen also lernen, diese Stereotype nicht zu pflegen, sondern zu hinterfragen und bewusst anders zu handeln. Das ist aber gar nicht so einfach, wie es jetzt vielleicht klingt. 

Wenn wir in der Gesellschaft nicht nur an die Plakate und Labels vor uns hertragen wollen, müssen wir in der Praxis aktiv gegen Rassismus und Diskriminierung vorgehen. Dabei wäre es jedoch fatal, immer gleich mit Vorwürfen zu reagieren. Es kommt vielmehr darauf an, die Möglichkeit zu schaffen, betroffene Personen, ins Gespräch zu holen und gemeinsam Lösungen zu finden.  

Diese Auseinandersetzung ist nicht einfach, vor allem, wenn man selbst in eine Situation kommt, in der man sich rechtfertigen muss. Es ist eine Herausforderung, damit umzugehen, besonders in einem Umfeld, das sich mit solchen Themen befasst. Aber es ist auch wichtig, nicht zu skandalisieren, sondern ruhig und sachlich zu bleiben, um gemeinsam einen Weg zu finden, wie man auf diese Themen reagiert und sich weiterentwickelt.  

Was mich derzeit besonders beschäftigt, ist die wachsende Zahl an Stimmen, die Diversität und Inklusion in Frage stellen. In einigen Teilen der Gesellschaft wird diese Entwicklung als übertrieben oder gar schädlich wahrgenommen. Es stellt sich die Frage, wie wir mit dieser Haltung umgehen und wie wir weiterhin ein respektvolles, offenes Miteinander fördern können, ohne dass Vielfalt zu einem ‘bösen’ Begriff wird.“  

SWANS: „Was hat Sie dazu bewegt Islamwissenschaften und Afrikawissenschaften zu studieren?“  

Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Ich habe viel studiert, verschiedene Fächer ausprobiert, aber dann bin ich irgendwann im Bereich der Sprachen und der Islamwissenschaften hängen geblieben. Es war nicht nur die Leidenschaft für Sprachen, sondern auch der Einfluss eines großartigen Professors, der mich mit seinen Geschichten begeisterte. Der wahre Wendepunkt kam jedoch durch eine schwierige, aber prägende Lehrerin. Sie gab mir eine Note 3 in Russisch, obwohl ich immer eine der Besten in der Klasse war. Ihre Begründung: ‘Ich messe Dich nicht im Vergleich zu den anderen, sondern an Deinem eigenen Potential. Du kannst viel mehr.’ Ich war total wütend, doch im Rückblick sehe ich, dass sie mir eine große Lehre erteilt hat. Sie gab mir den Anstoß, mich selbst herauszufordern.  

Obwohl ich aus einem akademischen Haushalt kam, war ich oft die erste in meinem Umfeld, die diesen Weg ging. Doch ich lernte, dass es nicht nur die Familie ist, die einen unterstützt, sondern auch Freund:innen und Kolleg:innen, die an einen glauben. Auf dem Weg gab es viele, die fragten: „Warum studierst du denn sowas? Kann man damit überhaupt Geld verdienen?“  

Im Studium musste ich lernen, mich nicht von negativen Stimmen entmutigen zu lassen. Heute sehe ich jüngere Kolleg:innen, die unglaublich gut und talentiert sind, aber sich nicht zutrauen, eine Doktorarbeit zu schreiben. Man sollte nicht auf die hören, die einen kleinreden, sondern auf die Stimmen, die einem zutrauen, mehr zu erreichen, als man selbst glaubt. 

Rückblickend kann ich sagen, dass genau diese Momente der Herausforderung und die Menschen, die an mich geglaubt haben, mich dahin gebracht haben, wo ich heute stehe. Und auch wenn ich damals dachte, diese Lehrerin war total fies und gemein, so verdanke ich ihr doch viel – sie hat mich auf das Potenzial in mir aufmerksam gemacht und mir Mut gemacht, nicht das nur nachzuahmen, was alle anderen um mich herumtun.  

Vertraue auf dein eigenes Potenzial und höre auf die, die an dich glauben. Auch wenn es schwerfällt, gerade dann, wenn du dich selbst in Frage stellst, sind es diese Herausforderungen und die Menschen, die dich weiterbringen, die dich wachsen lassen.“  

SWANS: „Welchen Einfluss haben Religionen grundsätzlich auf die Gesellschaft? Welche möglichen Vor- und Nachteile bringen sie mit sich?  

Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Religionen beeinflussen Gesellschaften je nach Kontext sehr unterschiedlich. Sie bieten Gemeinschaft, Sinnstiftung und spirituelle Orientierung. Oft sind sie Orte des Widerstands oder der Zuflucht, wie etwa Kirchen in der DDR. Aber sie können auch staatlich gelenkt sein und gesellschaftliche Normen prägen.  

Religionen können Menschen stärken, Sinnfragen beantworten und durch Rituale wie Meditation oder Fasten innere Ruhe fördern. Sie halten Methoden dafür bereit, Verstand und Körper zu verbinden und Gemeinschaft mit anderen zu schaffen und helfen, sich mit den Herausforderungen des Lebens auseinanderzusetzen.  

Nachteile entstehen, wenn religiöse Organisationen dogmatisch werden, Menschen ausgrenzen oder Religionen instrumentalisiert werden, um Macht zu sichern oder zu erwerben. Ich bin mir sicher: Entscheidend ist, wie Religionen gelebt und interpretiert werden – sie sind kein abstraktes Konzept, sondern das, was Menschen aus ihnen machen.“  

SWANS: „Sie haben sich für Ihr Buch ‘Wer ist hier Muslim?’ mit Interkulturellen Studien befasst und geforscht. Was wollten Sie damit bewirken?“  

Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Im Jahr 2011 veröffentlichte ich meine Forschung über die Frage, wie Menschen in Deutschland vom Migrant:innen zum Muslim:innen werden und welche Rolle ihre Identität dabei spielt. Dabei fiel mir auf, dass sich der Diskurs von der Frage der Ausländer:in hin zu der der Muslim:in veränderte. Während in den 1990er Jahren viel über ‘Ausländer:in’ gesprochen wurde, stand plötzlich der Islam im Mittelpunkt. Ich sprach mit verschiedenen Persönlichkeiten, wie der Bundestagsabgeordneten Lale Akgün, dem Schriftsteller Navid Kermani und der DJane İpek İpekçioğlu, um ihre Erfahrungen als öffentlich bekannte Muslim:innen gemeinsam mit ihnen zu deuten und zu verstehen, wie die Debatte um den Islam in Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern eigentlich tickte. Erstmal wollte ich also verstehen, was mit mir und um mich herum passiert war, spätestens seit dem 11. September 2001.  

Als ich dann 2016 ans Leibniz-Institut für Bildungsmedien kam, begann ich, mich mit Schulbuchinhalten und ihrer Darstellung von Diskriminierung zu beschäftigen. Insbesondere untersuchte ich, wie Minderheiten wie Muslim:innen und Sinti:zze und Rom:nja in Schulbüchern behandelt werden. Sie kommen selten mit Namen vor und eigentlich nur im Zusammenhang mit Problemen. Der Islam wird beispielsweise in Politikschulbüchern ausschließlich im Kontext von Konflikten wie dem Irak-Krieg oder 9/11 angesprochen, was zu einem einseitigen Bild führen kann. Die Beiträge von Muslim:innen zu Wissenschaft und Kultur, etwa in der Astronomie und Mathematik, in denen arabische Begriffe wie Algebra und Arithmetik ihren Ursprung haben. 

In einem Projekt namens ‘Falsafa in die Schule’ wollen wir anregen, philosophische und andere wissenschaftliche Beiträge des Islams in Schulbücher aufzunehmen. Unser Ziel ist es, damit zu einem ausgewogeneren Bild des Islam beizutragen.  

Es geht nicht darum, Konflikte zu verharmlosen, sondern auch die positiven Aspekte und die intellektuellen und künstlerischen Beiträge der muslimischen Welt zu zeigen. Durch die Arbeit an diesem Projekt hoffen wir, ein weniger vorurteilsbeladenes Bild des Islams in der Gesellschaft zu fördern. Dabei geht es darum, die Vielfalt und die positiven Einflüsse muslimischer Gemeinschaften sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart zu würdigen.“  

SWANS: „Was sind Ihre Anker im Leben?“  

Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Meine Anker in Krisenzeiten sind meine Familie – Tochter, Mann und Mutter. Meine Geschwister und mindestens 36 Cousins und Cousinen. Auch meine Tiere geben mir Halt – unser Hund, zwei Katzen und die Zwerghühner, die gern kuscheln. Ich finde Ruhe in Pflanzen, beim Gärtnern und Umtopfen. Enge Freundschaften aus Kindheit und Schule und Menschen, die zuhören können, tragen mich. Und schließlich ist auch der Glaube eine Quelle der Kraft – mal zweifelnd, mal dankbar, aber immer eine Verbindung zur Energie, die uns bewegt.“  

SWANS: Welchen Ratschlag würden Sie unseren ‘Schwänen’ abschließend mitgeben?”  

Prof. Dr. Riem Spielhaus: „Höre auf diejenigen, die das Gute in dir sehen. Negative Stimmen kann man ignorieren, doch den positiven Worten darfst du vertrauen – sie spiegeln oft eine Wahrheit wider, die wir selbst manchmal übersehen.“  

SWANS: „Vielen Dank für das Gespräch!“  

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