Gonca Türkeli-Dehnert ist seit Februar 2018 Geschäftsführerin der Deutschlandstiftung Integration. Sie war nach verschiedenen Stationen in Wirtschaft und Rechtsberatung zuletzt im Arbeitsstab der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung im Bundeskanzleramt tätig.
Im Interview mit SWANS erzählt sie von ihrer Jugend in Kreuzberg, ihrem Weg ins Kanzleramt und warum Frauen mit Zuwanderungsgeschichte aktuell gute Chancen in der Politik haben. Das Gespräch führte Maycaa Hannon.
SWANS: Was prägte Ihren Lebensweg?
Türkeli-Dehnert: Mein schulischer und beruflicher Werdegang war stark geprägt von der Unterstützung meiner Familie. Da mein Vater Lehrer war, kannte er sich mit dem Schulsystem in Deutschland aus und wollte früh, dass ich auf ein Gymnasium komme. Das war ein Glücksfall. Es war aber auch ein Wendepunkt und eine neue Erfahrung für mich. Plötzlich war ich auf einer Schule, deren Unterrichtssprache Französisch war. Meine deutschsprechenden Eltern konnten mir bei Schulfragen nicht mehr helfen, weil sie kein Französisch sprachen. Ich war also auf mich allein gestellt.
Das Gymnasium war sehr prägend für mein Verständnis von Vielfalt und Verschiedenheit. Die Schülerinnen und Schüler kamen aus den unterschiedlichsten Ländern dieser Welt. Deshalb hat auch niemand in der Schülerschaft die Herkunft des anderen näher hinterfragt oder verurteilt. Vielfalt und Mehrsprachigkeit wurden als Bereicherung – nicht als Defizit – angesehen. Für diese Erfahrung bin ich dankbar.
Während die Gesamterfahrung eher positiv war, gab es aber auch Ablehnung. Ein Lehrer sagte mir einmal, ich hätte einem deutschen Kind den Platz an diesem anspruchsvollen Gymnasium weggenommen. Es ist nicht leicht für ein Kind, mit dieser Form von Rassismus umzugehen, gegen die man sich nicht richtig zur Wehr setzen kann. Diese bittere Erfahrung ist mir noch heute im Gedächtnis geblieben. So verletzend das auch war, so lehrreich war es auch. Ich lernte, dass ich nicht erlauben darf, dass negative Erfahrungen mein Leben bestimmen.
Ich habe mich deshalb später im Leben nie mehr in einer Opferrolle wiedergefunden. Ich wollte mich auch nicht in eine solche drängen lassen. Mir sind allerdings auch viele Diskriminierungserfahrungen erspart geblieben. Im Gegensatz zu anderen Kindern aus Zuwandererfamilien etwa musste ich nicht um eine Gymnasialempfehlung kämpfen.
SWANS: Ihr Leben war komplett frei von Rassismuserfahrungen? Schließlich sind Sie in Kreuzberg aufgewachsen, wie waren Ihre Erfahrungen damals?
Türkeli-Dehnert: Kreuzberg war früher vor dem Mauerfall unterteilt in Kreuzberg 36 und in Kreuzberg 61. Die sind örtlich nicht weit weg voneinander, aber die Unterschiede sind schon deutlich. Das Kreuzberg 36 umfasste die Ecke um das Kottbusser Tor, rund um das Migrantengeschehen. Das Kreuzberg 61 galt schon damals als das Intellektuellere, weniger Ghettoisierte, im Vergleich natürlich. Wir waren damals die einzige türkische Familie in dem Haus, in dem wir gelebt haben.
Viele der Schüler in Kreuzberg kamen schon vor 30 Jahren aus dem türkisch-arabischen Raum, aber zahlenmäßig ist das kein Vergleich zu den Verhältnissen in Kreuzberg heute. Ich bin in Kreuzberg nur vier Jahre zur Grundschule gegangen, habe dort aber auch Unterstützung von meiner Grundschullehrerin erfahren. Deswegen kann ich sagen, dass ich in Kreuzberg eine gute Zeit hatte. Vielleicht lebe ich deshalb wieder gerne hier. Außerdem glaube ich, dass Rassismus keine Bezirksgrenzen kennt. Ich würde sogar behaupten, dass man dort, wo es wenig Vielfalt gibt, mehr Rassismus findet.
SWANS: Wer hat am meisten an Sie geglaubt?
Türkeli-Dehnert: Zu den Menschen, die an mich geglaubt haben, gehört definitiv die ehemalige Staatsministerin für Integration Prof. Maria Böhmer. Sie hat damals als Integrationsbeauftragte meine Initiativbewerbung auf den Tisch bekommen und trotz einer langwierigen Sicherheitsüberprüfung an meiner Einstellung im Bundeskanzleramt festgehalten und das, obwohl ich kaum Berufserfahrung hatte. Hinzu kam, dass ich die erste türkischstämmige Mitarbeiterin im Bundeskanzleramt war. Es war also nicht selbstverständlich, dass die Staatsministerin so geduldig mit meiner Situation war.
Auch ihr Büroleiter, Herr Ingo Behnel, der heute Mentor bei der Deutschlandstiftung Integration ist, hat mich damals auch sehr unterstützt und an mich geglaubt. Bis heute stehen mir beide bei Karrierefragen mit Rat und Tat zur Seite und helfen mir, den richtigen Weg einzuschlagen.
Dieses informelle Mentoring hat mir persönlich sehr geholfen in meiner beruflichen Entwicklung. Deshalb möchte ich diese Unterstützung auch denjenigen zukommen lassen, die sie nicht aus ihrem eigenen sozialen Umfeld generieren können. Ich war jahrelang Lesepatin und habe in Kreuzberger Grundschulen Mädchen beim Lesen, in Mathe oder bei anderen Themen unterstützt. Unser Mentoring-Verhältnis hat sich nicht auf die Schule beschränkt. Wir sind etwa zusammen ins Theater gegangen oder ich habe den Mädchen meinen Arbeitsplatz gezeigt. Jemandem eine neue und unbekannte Welt zu zeigen, ist auch eine vielleicht nicht klassische aber vielleicht genauso wichtige Form des Mentorings.
SWANS: Werden Sie unterschätzt? Haben Sie immer an sich geglaubt?
Türkeli-Dehnert: Wie jeder andere Mensch, hatte auch ich Phasen, in denen ich an mir selbst gezweifelt habe: z.B in Staatsexamens- oder Bewerbungsphasen, oder vor meinem Berufseinstieg.
Hinzukommt, dass es immer wieder – insbesondere im Arbeitsleben – Menschen gibt, die versuchen, einem das Gefühl zu vermitteln, man sei nicht gut genug. Sie versuchen einen – aus welcher Motivation heraus auch immer – zu verunsichern. Da darf man nicht zu empfindlich sein. Man sollte an sich selbst und an seine Fähigkeiten glauben.
Andererseits kann ein wenig Selbstzweifel auch gesund und Ansporn sein, um das Beste aus sich selbst herauszuholen. Ich glaube, man sollte immer ein gesundes, aber kritisches Verhältnis zu sich selbst haben.
SWANS: Wie stehen Sie zur Frauen-Quote?
Türkeli-Dehnert: Hätten Sie mir diese Frage vor vier Jahren gestellt, dann hätte ich höchstwahrscheinlich gesagt, dass ich gegen eine Frauenquote bin, weil ich ja selbst keine Quotenfrau sein möchte. Aber angesichts der ausgebliebenen Fortschritte der letzten Jahre, gerade wenn ich mir die Zusammensetzung des aktuellen Bundestags anschaue, dann sehe ich, dass Frauen stark unterrepräsentiert sind. Das kann wohl kaum an der Qualifikation liegen, wenn doch die Bildungsabschlüsse der Mädchen statistisch besser sind.
Wenn wir es im Jahr 2018 nicht schaffen, eine sichtbare Berücksichtigung von Frauen auf allen Ebenen und in allen Bereichen hinzubekommen, dann brauchen wir höchstwahrscheinlich doch eine Quote. Vielleicht keine starre Quote, aber wir müssen ein System finden, in dem das besser funktioniert.
SWANS: Es gibt das Argument, dass ein Migrationshintergrund bei Frauen ein verstärkender Faktor für Benachteiligung sein kann, wie sehen Sie das?
Türkeli-Dehnert: Ich sehe den Migrationshintergrund zurzeit bei Frauen als Vorteil, zumindest im Vergleich zu den Männern mit Migrationshintergrund. In vielen Gremien sind verstärkt Diversifizierungsansätze zu beobachten, deswegen werden bei gleicher Qualifikation bevorzugt Frauen gesucht. Ein Migrationshintergrund kann insofern auch von großem Vorteil sein – vor allem in der Politik. Mit einer Frau mit Migrationshintergrund können mehrere Diversifizierungsziele auf einer Stelle gleichzeitig abgedeckt werden.
Das gilt aber wie gesagt nur im Vergleich zu Männern mit Migrationshintergrund. Es kommt also auf die Vergleichsgruppe an. Wenn man Frauen unabhängig vom Migrationshintergrund mit Männern vergleicht, dann sind wir nach wie vor von einer Gleichberechtigung etwa beim Einkommen weit entfernt.
SWANS: Danke für das Gespräch!