Selcan Ipek-Ugay: “Ich hatte keine Vorbilder.”

Selcan Ipek-Ugay ist Professorin für Informatik an der Berliner Hochschule für Technik (BHT). Sie war in der Informatik-Lehre engagiert und nahm zuvor gleichzeitig diverse Positionen im außeruniversitären Umfeld ein, darunter Softwareentwicklerin, SCRUM-Masterin, Business Development Managerin und Head of Software Development. Nach ihrem Studium der Medizinischen Informatik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der Hochschule Heilbronn promovierte sie an der Berliner Charité am Institut für Experimentelle Radiologie und dem Institut für Medizinische Informatik. Während ihrer Promotion lag ihr Schwerpunkt auf der Entwicklung nichtinvasiver und bildgestützter Diagnosesysteme, um Organveränderungen wie Leberverhärtungen oder Tumore unmittelbar ohne Biopsie zu erkennen. Sie wurde 1985 in Adana (Türkei) geboren und kam kurz vor ihrem 12. Geburtstag zusammen mit ihrer Familie nach Deutschland (Hessen). Die heutige Professorin hat als erste aus ihrer Familie das Abitur gemacht, nachdem sie zunächst auf die Hauptschule geschickt worden war.

SWANS: „Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreiben? Wie sind Sie aufgewachsen?“ 

Selcan Ipek-Ugay: „Meine Kindheit war von bescheidenen und authentischen Verhältnissen geprägt. Zunächst wuchs ich in einem kleinen Dorf am Mittelmeer auf. Später zogen wir in eine kleine Stadt in Hessen. Dort sah ich mich plötzlich mit einer neuen Sprache, Kultur und einem völlig fremden Umfeld konfrontiert.  
In dieser herausfordernden Situation musste ich früh Verantwortung übernehmen – sowohl zuhause, als auch in der Schule. Ich war praktisch die zweite Mutter für meine vier Geschwister und wollte ihnen ein Vorbild sein. Deshalb war es mir wichtig, immer klare Ziele zu setzen und einen Plan zu verfolgen. Diese Erfahrungen haben mich sehr früh reifen lassen und tief geprägt.“ 

SWANS: „Ihr Werdegang von der Schule bis zum Studium war sicherlich nicht leicht. Gab es Vorbilder, die Sie in Ihrer Kindheit und Jugend gestärkt haben?“ 

Selcan Ipek-Ugay: „Mein schulischer Werdegang war in der Tat sehr herausfordernd, da ich gar keine Vorbilder hatte. In meiner Familie oder Bekanntenkreis hatte niemand das Abitur gemacht oder studiert. Meine Eltern konnten nur drei Jahre die Dorfschule besuchen. Da wir das deutsche Bildungssystem nicht kannten, wurden meine Geschwister und ich zunächst auf eine Hauptschule geschickt. Schnell erkannte ich, wie wichtig es war, aus diesem schulischen Umfeld herauszukommen – einer Bubble, in der weder gefordert noch gefördert wurde. Dennoch musste ich zuerst die Hauptschule beenden, die mittlere Reife nachholen, um dann als Einzige in meinem Jahrgang auf ein naturwissenschaftliches Gymnasium gehen und Abitur machen zu dürfen.“ 

SWANS: „Sie haben Rassismus erlebt. Wie sind Sie damit umgegangen?“ 

Selcan Ipek-Ugay: „Bereits kurz nach unserer Ankunft in Deutschland und dem Beginn mit der Schule erlebte ich meine erste Begegnung mit Diskriminierung – nicht nur von Mitschüler:innen, sondern auch von Lehrkräften, weshalb mein schulischer Weg so hart war. Da ich aber zuvor keine Berührung mit Rassismus hatte, konnte ich diese Erfahrungen erst viele Jahre später richtig reflektieren.  

Interessanterweise erfahre ich in den letzten Jahren erneut spürbaren Rassismus. Besonders belastend ist es, diese Erfahrungen in der Öffentlichkeit und oft vor den Augen meiner Kinder machen zu müssen. Auch wenn mich das innerlich stark getroffen hat und ich häufig das Fehlen von Zivilcourage bemerkt habe, habe ich nach außen hin meist ruhig und gefasst reagiert. Einmal rief ich sogar die Polizei, um gegen antimuslimischen Rassismus und Beleidigungen vorzugehen.“ 

SWANS: „Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen? Was oder wer hat Sie inspiriert?“  

Selcan Ipek-Ugay: „Bereits seit der Grundschule wusste ich, dass mir Naturwissenschaften, insbesondere Mathematik und logisches Denken Spaß machen. 

In der Oberstufe hatte ich Biologie als Leistungskurs und konnte dort die Relevanz der Informationstechnologie für medizinische Anwendungen kennenlernen, wie etwa Methoden zur Krankheitsuntersuchung wie DNA-Sequenzierung und die Kombination bildgebender Verfahren wie PET-CT zur Unterstützung der Diagnose. 

Als ich kurz vor meinem Abitur einen Ausflug nach Heidelberg machte und mich in die Stadt verliebte, entdeckte ich den Studiengang Medizinische Informatik an der dortigen Universität. Ab diesem Zeitpunkt stand für mich fest, was ich studieren wollte. 

Bei der Wahl des Studiengangs Medizinische Informatik bin ich von meinen fachlichen Interessen und von der Schönheit der Stadt Heidelberg ausgegangen.  
Während meiner Promotionszeit in der experimentellen Radiologie fand ich es sehr spannend, neue innovative Diagnose- und Therapiesysteme zu erforschen und unmittelbar anzuwenden. Zudem hat es mir Spaß gemacht, meine Erfahrungen und mein Wissen mit jungen Menschen zu teilen. Deshalb bin ich in der Forschung und Lehre geblieben.“ 

SWANS: „Warum brauchen wir mehr Frauen in der Informatik bzw. Technologie?“ 

Selcan Ipek-Ugay: „Frauen in der Informatik tragen zur Förderung von Vielfalt bei und ermöglichen damit innovativere und diskriminierungsfreiere Lösungen.“ 

SWANS: „Hat eine diskriminierende Gesellschaft einen Einfluss auf die Technologie?“ 

Selcan Ipek-Ugay: „Ja, absolut. Wenn bestimmte Gruppen von der Gesellschaft systematisch benachteiligt werden, können diese Vorurteile in Technologieprodukte bzw. -prozesse, z.B. Algorithmen oder KI-Systeme einfließen. Dies kann wiederum dazu führen, dass Technologien bestehende soziale Ungleichheiten und diskriminierende Muster verstärken.“ 

SWANS: „Welche Fähigkeiten und Eigenschaften brauche ich als Frau, um mich in Ihrer Branche behaupten zu können und erfolgreich zu sein?“ 

Selcan Ipek-Ugay: „Als Frau in der IT-Lehre und -Forschung muss man sich durch seine fachliche Expertise stets beweisen. Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen sind wichtige Eigenschaften, um sich in einem üblicherweise männerdominierten Umfeld zu behaupten. Ein starkes Netzwerk und das Annehmen von Herausforderungen sind ebenfalls bedeutend.“ 

SWANS: „Sie haben inzwischen vier Kinder. Wie vereinbaren Sie Beruf und Familie miteinander?“ 

Selcan Ipek-Ugay: „Mit vier kleinen Kindern ist es eine ständige Herausforderung, die Balance zwischen Privat- und Berufsleben zu finden. Daher musste ich in den letzten Jahren häufig Nachtschichten einlegen, um meine Pflichten überhaupt zu bewältigen. Effektives Zeitmanagement und eine gerechte Aufgabenverteilung sind dabei essenziell. 

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist anspruchsvoll, aber mit einigermaßen flexiblen Arbeitszeiten und einem Partner, der sich der gemeinsamen Verantwortung für Familie und Kinder bewusst ist, durchaus realisierbar.“ 

SWANS: „Auf welche gemeisterten Herausforderungen in Ihrem bisherigen Leben sind Sie besonders stolz?“ 

Selcan Ipek-Ugay: „In meiner finalen Promotionsphase habe ich innerhalb eines Jahres meine ersten zwei Kinder bekommen. Trotz der Herausforderungen von zwei Geburten und den damit verbundenen privaten und auch fachlichen Anforderungen konnte ich meine Dissertation nach insgesamt drei Jahren erfolgreich mit summa cum laude verteidigen. Als jüngste Doktorin meines Jahrgangs habe ich meine Promotionsurkunde auf der großen Bühne zusammen mit meiner einjährigen Tochter, die gerade ihre ersten Schritte machte, und meiner drei Monate alten Tochter in der Babyschale entgegengenommen. Gleich drei Frauen auf der Bühne.“ 

SWANS: „Was wird sich in Zukunft durch die Technologie für uns verändern?“ 

Selcan Ipek-Ugay: „Bereits heute spielt Technologie eine zentrale Rolle in unserem Alltag – sie beeinflusst, wie wir arbeiten, wie wir kommunizieren und unsere Freizeit gestalten. Ich denke, dass sich dieser Einfluss in Zukunft weiter verstärken wird. Automatisierung und Künstliche Intelligenz werden noch mehr Aufgaben übernehmen und personalisierte Anwendungen werden unsere Bedürfnisse noch gezielter erfüllen, während die Arbeitswelt hoffentlich flexibler wird. Auch neue Mobilitätskonzepte und nachhaltige Technologien werden vermutlich unsere Umwelt prägen.  

Gleichzeitig sehe ich auch Herausforderungen in den Bereichen Datenschutz, Ethik und der Gefahr von digitaler Diskriminierung durch algorithmische Verzerrungen (Bias) auf uns zukommen.“ 

SWANS: „Was möchten Sie abschließend unserer Community gerne mitgeben?“ 

Selcan Ipek-Ugay: „Eure Erfahrungen und Perspektiven sind von unschätzbarem Wert. Lasst euch von Herausforderungen nicht entmutigen. Nutzt eure Stärke, setzt euch klare Ziele und sucht Unterstützung durch Netzwerke. Gemeinsam können wir Barrieren abbauen und den Weg zu einer besseren Zukunft ebnen!“ 

SWANS: „Vielen Dank für das Gespräch!“ 

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