Dr. Enise Lauterbach: „Insbesondere junge migrantische Frauen werden oft unterschätzt.“

Dr. med. Enise Lauterbach ist Ärztin und Unternehmerin, ihr Credo lautet: It’s time to revolutionize healthcare. Die passionierte Kardiologin mit Schwerpunkt auf die Behandlung von Herzrhythmusstörungen hat im Jahr 2020 das Start-Up LEMOA medical GmbH & Co. KG gegründet sowie zwei Apps entwickelt. Das Magazin Focus hat sie 2020 zu einer von 100 Frauen des Jahres gewählt, zudem wurde sie 2021 vom Handelsblatt als eine von 100 Frauen in Deutschland ausgezeichnet, die die Zukunft voranbringen und vom Business Insider Deutschland als eine von 25 Zukunftsmacherinnen.

SWANS: Wo bist du aufgewachsen, was hast du studiert und was machst du beruflich?

Enise: Ich bin in Frankenthal (Pfalz) geboren und aufgewachsen und bin die Älteste dreier Schwestern. Meine Eltern sind Anfang der 70er-Jahre im Zuge des Anwerbeabkommens aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Sie kamen als Gastarbeiter. Wirtschaftliche Armut hatte ihr Leben, insbesondere das meines Vaters, der schon als Kind auf Tabakfeldern mitarbeiten musste, sehr geprägt, deshalb war ihnen Bildung wichtig. Sie sahen Bildung als Garant für wirtschaftliche Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit; insbesondere für uns Mädchen. Unsere Eltern machten uns sehr früh deutlich, Bildung als Chance zu sehen und diese auch zu ergreifen.

Ich habe Medizin studiert und bin Ärztin geworden. Ursprünglich wollte ich Astronautin werden. Es gab ein paar Hürden, die mir zum ersten Mal bewusst werden ließen: Houston – ich habe gleich mehrere Probleme: Mein Geschlecht, meine Nationalität.

Meine Motivation weiterzumachen und nicht aufzugeben, ist der Tatsache geschuldet, dass es nie einen einfachen Weg für mich gab, ich aber trotzdem weiter wollte.

SWANS: Welche konkreten Rassismus/Sexismus Erfahrungen hast du in der bisherigen Karriere gemacht?

Enise: Migrant:innen machen von Klein auf rassistische Erfahrungen. Wer, wie ich in den 1980er und 1990er-Jahren in Deutschland groß geworden ist, wurde immer wieder mit rassistischen Äußerungen konfrontiert.

Ich denke viele Mädchen und Frauen machen die einen oder anderen Erfahrungen mit Sexismus im Sinne der geschlechtsbezogenen Diskriminierung. Sexismus hat unterschiedliche Nuancen. Es fängt schon in der Schule ausgehend vom Lehrpersonal an. Mit der Zeit habe ich feine Antennen hierfür entwickelt. Im Laufe meiner Karriere habe ich Sexismus eher wahrgenommen, je weiter ich beruflich vorankommen wollte – bis hin zu offener Frauenfeindlichkeit.

In meiner beruflichen Karriere spielte Rassismus bis auf eine einzige sehr drastische Situation glücklicherweise keine große Rolle. Vielleicht stumpfen Migrant:innen ab und reagieren nur auf bestimmte Trigger – wir entwickeln eine „hohe Schmerzschwelle“. So war es bei mir – auf bereits zuvor getätigte chauvinistische Aussagen in der Vergangenheit von Vorgesetzten, die sowohl rassistisch, als auch sexistisch waren, habe ich reagiert und dann die Entscheidung getroffen zu gehen. Meine persönliche Schmerzgrenze war nach Jahren erreicht.

SWANS: Wer hat immer an dich geglaubt?

Enise: Mein Mann, von der ersten Minute unserer Begegnung an. Auch meine Eltern haben an mich geglaubt, vor allem an meine Stärke in hoffnungslosesten Situationen, sowie Brigitte Harsch von der Markelstiftung (heute Schüler:innenstipendium TIL-Talent im Land).

SWANS: Wer hat dich unterschätzt?

Enise: Nicht wenige.

SWANS: Wo war es für dich besonders schwer/einfach?

Enise: Am einfachsten war es für mich während des Studiums und während meiner Assistenzärztinnenzeit in der Uniklinik. Es fühlte sich wie der ideale Raum für mich an, ich genoss jede Sekunde. Insbesondere im klinischen Abschnitt des Studiums spielte es zum ersten Mal tatsächlich keine Rolle, woher ich kam. Viele unterschiedliche Begegnungen und Freund:innenschaften aus dieser Zeit bereicherten mein Leben – und die Sicht auf vieles in meinem Leben fokussierte sich in dieser prägnantesten Zeit meines Lebens.

Besonders schwer war es, mich Tag für Tag als Frau und Mutter in einem invasiven Fach beweisen zu müssen. Die „Annahmen über“ und „Erwartungen an“ berufstätige Mütter sind surreal. Ich wusste nie, ob ich jetzt enttäusche, weil ich meinen Job einfach gut mache und nicht versage – da ich ja trotz Stillen offenbar nicht meine Hirnsubstanz verloren zu haben schien. Und auf der anderen Seite dieses permanente Ignorieren der Tatsache, Mutter von kleinen Kindern zu sein und als Frau nicht allzeit bereit und durchgängig rund um die Uhr zur Verfügung stehen zu können (Einspringen, Überstunden, Warten auf Chefarzt-Visiten, Warten auf Vertreter:innen etc.)

Alles Menschenmögliche an Einsatz und Flexibilität schien nie genug. Ich hatte lange das Gefühl, du bist nicht einfach gut genug und eine einzige Enttäuschung. Die Gefahr dabei ist: Irgendwann glaubst du das selbst und unterliegst der Gefahr, dich selbst zu verlieren.

SWANS: Wie stehst du zu dem Thema „Quotendiskussion“?

Enise: Vor 20 Jahren hätte ich gesagt: “Nein Frauen brauchen keine Quote – wir sind exzellent ausgebildet und hochqualifiziert.“ In all den Jahren habe ich gelernt: Ohne Quote wird es keine Parität geben, denn die Realität sieht so aus, dass es für Frauen gläserne Decken gibt aus Panzerglas. Ohne Parität werden Frauen weiterhin unsichtbar bleiben und damit keine Stimme haben, um gesellschaftsrelevante Themen in Politik und Wirtschaft umzusetzen. Das gilt auch für Naturwissenschaften und die Kunst, hier vermisse ich nach wie vor Frauen in leitenden Positionen.

Insgesamt empfinde ich Vielfalt als eine Bereicherung. Eine Quote für Migrant:innen halte ich augenblicklich nicht für sinnvoll. Vielleicht denke ich darüber in zehn oder 20 Jahren aber auch anders. Wichtiger wäre mir eine Verpflichtung bzw. ein Bekenntnis zur Diversität in den Belegschaften der Institutionen und Unternehmen. Ich spreche hier aber nicht von dem zunehmenden Diversity-Washing, das ich erstaunt in den letzten Jahren beobachte. Diversity sollte kein Lippenbekenntnis sein oder ein Projekt. Diversität sollte immer den Querschnitt der Individuen der Gesellschaft aufzeigen in seiner ganzen Bandbreite. Vielleicht erübrigt sich dann die Quote für Frauen und/oder Migrant:innen, wenn eine selbstverständliche kulturelle Offenheit innerhalb von Institutionen und Unternehmen existiert.

SWANS: Welchen Tipp gibst du an junge Studentinnen bzw. Absolventinnen?

Enise: Junge Frauen, insbesondere junge migrantische Frauen werden oft unterschätzt, deshalb empfehle ich unbedingt, an euch selbst zu glauben und euch nicht beirren zu lassen. Vor allem zum Berufsstart: Kennt Euren Wert, lasst euch nichts vormachen. Hier geht es nicht nur um das Gehalt, es geht um Perspektiven für Positionen, um Verbindlichkeiten, die unbedingt eingehalten werden sollten – prüft euer Unternehmen.

Mein zweiter Tipp: Seid mutig. Jede Erfahrung ist wertvoll und unglaublich lehrreich für die weitere Karriere, wenn nicht sogar für das ganze Leben. Jede Erfahrung verleiht Flügel – entweder für noch mehr Mutausbrüche, oder für das Selbstbewusstsein, das Weite zu suchen.

Mein letzter Tipp: Sucht euch sehr früh Netzwerke und Mentor:innen, am besten bereits im Studium. Haltet gezielt nach Mentor:innen Ausschau, die fördern und fordern. Netzwerke sind Türöffner, die im Berufsleben eine wichtige Rolle spielen. Ein gutes Netzwerk ist nachhaltig wie eine gute Partner:innenschaft, die vor allem in kritischen Momenten zu euch hält, also in guten wie in schlechten Zeiten für euch da ist.

Wir Frauen sind ja als Kümmerinnen sozialisiert und fühlen uns oft unwohl, etwas anzunehmen. Deshalb ist es für viele hilfreich zu wissen: Ich gebe das irgendwann zurück – mit Freude. Geben und Nehmen soll irgendwann eine natürliche Balance halten und wenn ihr ein gutes Netzwerk habt, dann teilt es gerne. Das Schöne ist, irgendwann seid ihr in der Position des Gebens und nicht nur des Nehmens und der Kreis schließt sich.

SWANS: Danke für das Gespräch!

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