Dr. Donya Gilan: „Diskriminierte Frauen sind für mich Resilienz-Vorbilder.“

Dr. Donya Gilan ist eine renommierte Psychologin, die sich auf die psychologische Anpassungsfähigkeit des Menschen spezialisiert hat. Sie ist bekannt für ihre Arbeit, die darauf abzielt, Erkenntnisse aus der psychischen Gesundheitsforschung in die Bereiche Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu integrieren. Ihr Fokus liegt auf dem Transfer von Wissen durch kreative Kommunikation, relevante Publikationen, Beratung politischer Entscheidungsträger und die Entwicklung von Programmen zur Förderung der Gesundheitskompetenz. Sie ist davon überzeugt, dass Wissenschaft dem Wohl von Menschen und Umwelt dienen sollte. Als Leiterin der Transkulturellen Ambulanz an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz sowie als Dozentin und Beraterin für Migration, Resilienz und Akkulturation an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ist sie eine führende Expertin auf ihrem Gebiet. Das Gespräch führte Zekiye Tolu.

SWANS: „Wie haben Sie Ihre Kindheit erlebt?“

Dr. Donya Gilan: „Meine Kindheit gleicht einem faszinierenden Mosaik aus Erinnerungen, das von den ersten Jahren im lebhaften Iran bis zu meiner aufregenden Einwanderung nach Deutschland im Jahr 1986 reicht. Der Wechsel zwischen den Kulturen war wie eine Entdeckungsreise durch verschiedene Welten, die meine Sinne belebten und meinen Horizont erweiterten. Anfangs zögerte ich, meine Muttersprache Farsi öffentlich zu sprechen, aus Scham und Unsicherheit, da es in meiner Umgebung wenig Fremdsprachigkeit gab. Doch im Laufe der Zeit wandelte sich meine Wahrnehmung grundlegend: Ich erkannte, dass meine Herkunft eine Quelle der Bereicherung ist. Heute empfinde ich es als Privileg, zweisprachig aufgewachsen zu sein, da es mir ein breiteres Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet und eine tiefere Verbindung zu meinen Wurzeln ermöglicht.“

SWANS: „Gab es Vorbilder, die Sie positiv beeinflusst haben?”

Dr. Donya Gilan: „Meine Eltern, sowohl meine leidenschaftlich engagierte Mutter als auch mein einfühlsamer Vater, verkörpern für mich die Essenz von Mut, Entschlossenheit und Großzügigkeit. Mein Vater begann sein Medizinstudium im Alter von 30 Jahren und zeigt bis heute eine beispiellose Jugendlichkeit und Aktivität. Sein unermüdlicher Einsatz für die Unterstützung sozial benachteiligter Menschen ist eine Inspirationsquelle für uns alle. Meine Mutter, eine Stimme der Gerechtigkeit und des sozialen Wandels, hat durch ihren unbeirrbaren Kampfgeist und ihre Vision für eine bessere Welt mein Leben nachhaltig geprägt. Besonders beeindruckt hat mich ihr Einsatz für die Rechte von Frauen in Mainz, wo sie sich für die Stärkung der Frauen und ihre politische Teilhabe eingesetzt hat.“

SWANS: „Wenn ich mich in einer Krise befinde, was raten Sie mir in dieser Situation?“

Dr. Donya Gilan: „Die Bewältigung von Krisen ist eine Herausforderung, die nicht nur unsere physische, sondern auch unsere psychische Gesundheit beeinflusst. Migration und die Anpassung an eine neue Gesellschaft stellen ein intensives Resilienz-Training dar, insbesondere für Menschen, die später im Leben in ein neues Land kommen. In solchen Momenten spielen kollektive Schutzfaktoren eine entscheidende Rolle, indem sie eine unterstützende Gemeinschaft bieten und den Glauben an die eigene Stärke stärken. Frauen, die sich in neuen Gesellschaften behaupten müssen, sind oft besonders resilient und kämpfen für ihre Rechte und die ihrer Mitfrauen, wie ich es bei meiner Mutter und anderen bewundernswerten Frauen erlebt habe.“

SWANS: „Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen?“

Dr. Donya Gilan: „Mein Interesse an der Psychologie wurde durch die faszinierenden Arbeiten von Pionieren wie Carl Gustav Jung, Sigmund Freud und den einflussreichen Ideen der Frankfurter Schule geweckt. Ihre tiefgreifenden Einsichten in die menschliche Psyche und Gesellschaft haben mein Verständnis für die Komplexität des menschlichen Geistes erweitert und mein Interesse an der Erforschung der Tiefen der menschlichen Seele geweckt. Insbesondere haben mich die psychologischen Theorien zur Emanzipation von Frauen und zur Förderung ihrer Rechte inspiriert, und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, diese Erkenntnisse in meinem beruflichen Werdegang zu vertiefen.“

SWANS: „Wie können wir aus Sicht der Resilienz-Forschung unsere psychische Gesundheit fördern?“

Dr. Donya Gilan: „Stille ist eine Art, die mich sehr entspannt. Das ist ein Aspekt, aber das kann für jede Person individuell sein. Man muss für sich seine Kraftquellen herausfinden. Für die eine Person ist es das Kochen, die Gartenarbeit oder die simpelsten Sachen. Das musst du herausfinden, was dir guttut. 

Der Mensch braucht aber auch die Abwechslung. Wenn man immer nur eine Sache macht, kann es dazu führen, dass man dann erschöpft ist. Vielfältigkeit und unterschiedliche Aktivitäten im Alltag zu haben, kann da hilfreich sein. 

Man sollte sich im Alltag fragen: Welche Einstellung habe ich? Wo habe ich verzerrte Wahrnehmungen, die einen negativen Einfluss auf meine Emotionen und Gedankenwelt haben? Für mich ist der zentralste Faktor: Resilienz funktioniert nur dann, wenn man die Möglichkeiten dazu hat, Resilienz auszuüben. Ich kann nur in den Wald gehen, Selbstfürsorge betreiben, Sport machen, wenn ich Freizeit habe, ohne funktioniert es nicht. Die Rahmenbedingungen sind da sehr wichtig. 

Resilienz ist von entscheidender Bedeutung für Frauen, da sie oft einem höheren Maß an Stressoren und Diskriminierung ausgesetzt sind. Die Politik und die Wirtschaft spielen eine wichtige Rolle bei der Förderung der Resilienz von Frauen, indem sie Rahmenbedingungen schaffen, die ihre psychische Gesundheit und ihre Fähigkeit zur Bewältigung stärken. Dies kann durch die Implementierung von Politiken zur Gleichstellung der Geschlechter, zur Bekämpfung von Diskriminierung und zur Sicherstellung des Zugangs zu Bildung und Beschäftigung geschehen. Darüber hinaus können Programme zur Förderung der mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz und zur Unterstützung von Frauen in Führungspositionen dazu beitragen, die Resilienz zu stärken.“

SWANS: „Welche Anlaufstellen oder kostengünstige Optionen gibt es noch, um meine Resilienz zu stärken?

Dr. Donya Gilan: „Ich würde mich bei meiner Krankenkasse erkundigen, die bieten oft Resilienz-Trainings an, die zum größten Teil mitfinanziert werden.

Wenn man sich selbst in Resilienz trainieren will, kann man bei jeder Herausforderung, die im Alltag auf einen zukommt, versuchen, diese durch eine andere Brille zu betrachten. Wie könnte ich diese Situation betrachten, die für mich eine Herausforderung darstellt? Wie kann ich an der Situation wachsen, damit der bedrohliche Charakter von stressigen Situationen verschwindet? Ich muss mich der Situation stellen. Ich kann nicht jeden Zustand ändern, aber ich kann meine Umgangsart damit verändern. Das ist der Kern der Resilienz-Ausbildung. Wie kann ich mich selbst so regulieren und einen flexiblen Umgang finden, damit mich diese Stressoren nicht jedes Mal umhauen? Gibt es Perspektiven, die ich verändern könnte? Brauche ich mehr Ressourcen? Wie gehe ich mit Stress um? Ich empfehle, sich selbst zu beobachten und dann das Verhalten zu ändern. Das ist ein Resilienz-Training, dass jede Person für sich täglich üben kann.“

SWANS: „Welche besonderen Stärken haben  mehrfachdiskriminierte Frauen (Frauen, die zusätzlich zum Geschlecht auch zum Beispiel aufgrund ihrer Herkunft, Religion etc. Benachteiligung erfahren)?“

Dr. Donya Gilan: „Sie haben auf jeden Fall eine starke Willenskraft und Geduld, die nicht jeder hat. Das sind für mich Kämpferinnen, die mehrfach belastet sind. Für mich sind das Resilienz-Vorbilder, da sie mit den wenigen Möglichkeiten, die sie haben, versuchen, das Beste daraus machen. Sie haben ganz oft eine Kämpfernatur, die nach außen hin nicht unbedingt sichtbar ist, aber innerlich vorhanden ist. Das ist ein zentraler Aspekt der Bewältigung: Voranschreiten, obwohl man belastet ist. Ich glaube, dass solche Frauen häufiger als Frauen genannt werden müssen und nicht irgendwelche Koryphäen, die ganz viel erreicht haben. Es sind die Unsichtbaren, die trotz vieler Belastungsfaktoren täglich an der Front für ihre Kinder oder ihr Leben kämpfen. Menschen, die nicht viel haben und das Beste daraus machen. 

In wissenschaftlichen Studien wurde festgestellt, dass diskriminierte Frauen oft über herausragende Resilienzfaktoren verfügen. Diese Faktoren umfassen unter anderem eine starke Selbstwirksamkeit, ein hohes Maß an Eigenmotivation und die Fähigkeit, positive Beziehungen aufrechtzuerhalten. Forschungsergebnisse zeigen auch, dass viele diskriminierte Frauen aufgrund ihrer Erfahrungen eine erhöhte Sensibilität für soziale Gerechtigkeit entwickeln und sich verstärkt für die Rechte anderer einsetzen. Darüber hinaus haben Studien gezeigt, dass diese Frauen oft eine große Fähigkeit zur Bewältigung von Stress und zur Anpassung an schwierige Umstände besitzen.“

SWANS: „Was möchten Sie unserer Community gerne mitgeben?“

Dr. Donya Gilan: „Frauen bilden das Rückgrat unserer Gesellschaft und verdienen bedingungslose Unterstützung. In einer Zeit voller Herausforderungen ist es von entscheidender Bedeutung, Frauen zu ermutigen, ihre Träume zu verfolgen und ihr volles Potenzial zu entfalten. Wir müssen uns besonders für die Frauen einsetzen, die keine Stimme haben, und für ihre Rechte kämpfen. Gemeinsam können wir Hindernisse überwinden und für Chancengleichheit kämpfen. Denn wie Ruth Bader Ginsburg treffend sagte: „Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist nicht nur eine Frauenfrage, sondern eine Angelegenheit der gesamten Menschheit.“

SWANS: „Vielen Dank für das Gespräch!“

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