Cemile Giousouf ist Vize-Präsidentin der Bundeszentrale für politische Bildung und war von 2013 bis 2017 die erste muslimische CDU-Abgeordnete im deutschen Bundestag. Sie hat Politikwissenschaften, Soziologie und Islamwissenschaften studiert und arbeitete vor ihrem Bundestagsmandat als Referentin im Integrations- und Frauenministerium von Nordrhein-Westfalen (NRW) zum Schwerpunktthema „Frauen mit Zuwanderungsgeschichte” und in der Integrationsabteilung des Arbeits- und Sozialministeriums von NRW. Das Interview führte Esra Elmaci.
SWANS: Haben Sie das Gefühl, Sie wurden in Ihrem Leben eher gefördert oder unterschätzt?
Giousouf: Glücklicherweise wurde ich gut gefördert. Sowohl in meiner Schulzeit, als auch im späteren Leben habe ich Menschen getroffen, die mich unterstützt und gefördert haben. Aber auch ich gehöre zu denen, die trotz sehr guter Noten zunächst keine Gymnasialempfehlung bekommen haben. Das hat meine Mutter damals durchgesetzt.
SWANS: Wer waren Ihre Vorbilder? Von wem haben Sie viel gelernt und zu wem haben Sie aufgeschaut?
Giousouf: Meine größten Vorbilder sind meine Eltern, die im Rahmen der Anwerbung sog. „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen sind – zuerst mein Vater, später im Rahmen der Familien-Zusammenführung meine Mutter und mein Bruder. Besonders das Durchhaltevermögen meiner Eltern war für mich sehr prägend. Sie haben es geschafft, mit wenigen Ressourcen und zunächst rudimentären Sprachkenntnissen in einem neuen Land Fuß zu fassen und ihren Kindern ein gutes Leben zu erarbeiten.
Eine unglaubliche Leistung vieler dieser Menschen, die meines Erachtens zu wenig Anerkennung findet. Die Bildungsaspiration dieser Generation war sehr hoch. Die Ausbildung ihrer Kinder hatte absolute Priorität und ihre eigenen Wünsche wurden hinten angestellt.
In meinem späteren Leben habe ich viele Politiker:innen getroffen, die mich sehr beeindruckt haben – insbesondere diejenigen, die sich für Themen und Menschen auch außerhalb ihrer eigenen Lebenswirklichkeit engagieren.
SWANS: Wie wichtig ist Ihnen die Repräsentation und Teilhabe verschiedener Bevölkerungsschichten in der Politik?
Giousouf: Wenn größere Bevölkerungsteile in den Parlamenten nicht vertreten sind oder (zum Teil auch deswegen) nicht einmal an Wahlen teilnehmen, haben wir ein Demokratiedefizit. Wenn Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Großstädten 40 bis 50 Prozent der Bewohner:innen ausmachen, aber in den entsprechenden Parlamenten nur ein marginaler Anteil einen Migrationshintergrund hat, fehlen hier wichtige Stimmen und Belange. Grundsätzlich sollten wichtige gesellschaftspolitische Themen auch ohne jeweilige Vertretung in den Parteien als Querschnittsthema mitgedacht werden.
Parteien und Gremien brauchen daher ein Verständnis für Diversität, aber auch Wissen über Belange marginalisierter Gruppen. Das kann und darf aber nicht die diskriminierungsfreie Möglichkeit zur Partizipation für alle ersetzen. Politische Partizipation muss daher beidseitig verbessert werden: Die Parteien müssen sich öffnen und diejenigen, die Interesse haben, müssen offensiv auf diese Parteien zugehen. Das ist keine Einbahnstraße.
SWANS: Welchen Tipp geben Sie Berufseinsteigerinnen in Sektoren, in denen sie in der Regel unterrepräsentiert sind?
Giousouf: Netzwerken und gut vorbereiten! Das Wichtigste ist, viele, auch unterschiedliche Kontakte zu knüpfen und zu wissen, wen man für welches Anliegen ansprechen kann. Berufseinsteigerinnen können beispielsweise bei den Personalräten oder branchenspezifischen Gremien Anschluss finden. Es kann auch nicht schaden, die Führungsspitze des Betriebes zu kontaktieren und sich persönlich vorzustellen.
Ich gehöre zu einer Generation, die sich da eher zurückgehalten hat. Die junge Generation ist viel selbstbewusster: Sie fordert offensiv ein, gehört zu werden. Das finde ich sehr gut und wichtig!
SWANS: Wie stehen Sie zur Frauenquote?
Giousouf: Ich denke, dass wir sie so lange brauchen, wie Frauen ausgegrenzt werden. Dass die Qualifikation und nicht das Geschlecht im Mittelpunkt stehen soll, teile ich. Dieses Argument spricht aber für und nicht gegen eine Quote, wenn qualifizierte Frauen offenkundig übervorteilt werden. Bei so mancher männlicher Besetzung auf der einen oder anderen Position kann wohl niemand ernsthaft behaupten, er habe diese seiner besseren Leistung zu verdanken. Solange das so ist, brauchen wir eine Quote.
SWANS: Vielen Dank für das Gespräch!